Krank und zufrieden

Weshalb geht es einigen Menschen gut und sie sind zufrieden, obwohl sie krank sind und Schmerzen haben?
Ich habe in meiner Hausarzttätigkeit immer wieder erlebt, wie diese Menschen nicht zu „Patienten“, zu Leidenden werden und eine weitere Dimension der Gesundheit besitzen, welche die Gesundheits-Definition der WHO (körperliches-psychisches-soziales Wohlergehen) nicht erklären kann.

Verbunden sein

Ich nenne diese vierte Dimension der Gesundheit „Verbundenheit“ oder unseren „inneren Arzt“, also ein subjektives Erleben der Gesundheit. Hier sind die Menschen selbst Experten ihrer Befindlichkeit und urteilen, ob sie sich gut und gesund fühlen. Es kann also sein, dass jemand als medizinisch krank eingestuft wird, rein äusserlich also absolut nicht gesund ist, aber trotzdem sagt: Mir geht’s gut.
Das gibt es auch umgekehrt. Von aussen ist nichts festzustellen, dennoch sind Menschen chronisch unglücklich. Einige entwickeln dann Symptome, die sich wieder messen und äusserlich behandeln lassen, wie Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Atemprobleme. Auch Burnout könnte man hier anfügen.

Verbunden- oder Sinnhaftigkeit: Wofür stehst du morgens auf?

„Ich glaube, dass man es nur erklären kann durch etwas, das ich „Verbundenheit“ nenne. Menschen, die sich verbunden fühlen – zum Beispiel mit der Erde, auf der sie laufen, mit der Kultur, der sie angehören, mit Gerüchen, Geschmäckern, mit der Sprache oder den Menschen, die sie umgeben, auch mit etwas „Absolutem“, einem Glauben vielleicht –, denen kann es trotz Krise, Krankheit und Tod gut gehen. Sie fühlen sich zu Hause.
Im Vergleich zu den drei anderen Dimensionen von Gesundheit ist die Verbundenheit sicher schwieriger zu fassen. Zumindest von aussen. Wir müssen die Menschen schon selbst fragen. Vielleicht kann man sagen, dass sie etwas Grösseres ist, was mit Sinngebung oder Spiritualität zu tun hat.“ (Zitat Tobias Esch. Er ist Gesundheitsforscher und auch Allgemeinmediziner, hat an der Harvard Medical School, der State University of New York und der Berliner Charité gearbeitet. Er findet, dass die moderne Medizin die Gesundheit von Menschen zu technisch betrachtet, sich zu sehr an messbaren Ergebnissen orientiert. Er möchte, dass eine Dimension eingeführt wird, die sich nicht so leicht bemessen lässt: zum Beitrag in DER ZEIT)

Die Erkenntnis, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst ist

Diese vierte Dimension der Gesundheit lässt sich ganz einfach in einer Frage fassen: „Wofür stehst du morgens auf?“
Die meisten Menschen, sagt Tobias Esch, haben darauf zwei Antworten:
„Die eine ist einfach: Menschen wollen den nächsten Tag angehen. Das Leben erleben zu können, ist gerade im Alter Grund genug, um morgens aufzustehen.
Und das Zweite ist das Gefühl, etwas weitergeben zu können, ein Vermächtnis.
Das klingt jetzt sehr platt, aber tatsächlich kann die Erkenntnis, dass der Sinn des Lebens das Leben selbst ist, unglaublich viel Gelassenheit und Zufriedenheit bringen. Und das erfahren die meisten von uns im Alter, bei Krankheiten oder in Krisen. Unsere Daten zeigen das auch: Wer krank ist, alt und gebrechlich oder einen Schicksalsschlag erlitten hat, kann über sich hinauswachsen und fähig sein, vieles loszulassen. Das Ego, das eigene Vorankommen scheinen dann weniger wichtig. Diese Erkenntnis kann uns auch in der Behandlung von Menschen unglaublich helfen.“

Sinn im Leben

„Sinn im Leben“ kann auch hochgestochen klingen. Der ganz alltägliche Sinn wird von dem japanischen Wort „Ikigai“ eingefangen. Gemeint ist all das, wofür es sich lohnt, morgens aufzustehen: Freude am Tun, an Kunst, am Anblick einer Waldlichtung, an der Verbindung mit lieben Menschen.

Ikigai und Moai

In den „Blue Zones“ ist vor allem “Ikigai und Moai” wichtig:
Moai” ist eine Gruppe von Menschen, die gemeinsame Interessen haben und sich umeinander kümmern. Dein Moai ist dein “Stamm” und ein weiterer Grund, warum Okinawaner glauben, dass sie so lange leben.

Ikigai”, lose übersetzt, bedeutet “Sinn im Leben”. In Okinawa wächst das Ikigai eines Menschen oft mit zunehmendem Alter. Es ist ihr Grund zu leben, das Ding, das sie morgens aus dem Bett treibt. Dieses japanische Glückskonzept fragt nicht nach dem grossen Ganzen, sondern nach dem Sinn im täglichen Leben. Es geht um den Sinn in den kleinen Momenten, die uns im Alltag begegnen und denen wir doch viel zu wenig Aufmerksamkeit schenken.

Hier finden Sie in einem kurzen Ikigai-Test heraus, wie stark Ihr Gefühl von Sinnhaftigkeit in diesem Moment ist: https://zeitakademiede.typeform.com/ikigai

Wie viel Verbundenheit besitze ich?

Dies entdeckt jeder selbst, indem man sich folgende Fragen stellt:
Was begeistert mich und bringt mich in einen Flow? Wo fühl ich mich zu Hause? Wo fühle ich mich gesehen und geliebt? Wo spüre ich, dass ich im Jetzt sein kann? Wofür steh ich morgens auf?

Wie erreiche ich mehr Verbundenheit?

Malen Sie einen Kreis. Dieser Kreis sind Sie.
Zeichen Sie nun ein, wer Sie beeinflusst. Das können Menschen sein, lebende oder verstorbene, Vorbilder oder auch Tiere. Schreiben Sie die Namen auf oder malen Sie für sie ebenfalls Kreise. All diese kreisen wie Planeten um Sie als Sonne. Achten Sie beim Einzeichnen auf die Entfernung: Wer ist näher dran und wer weiter weg? Wenn Sie mögen, können Sie auch darüber nachdenken, für wen Sie als Sonne scheinen, und die Namen mit Pfeilen in beide Richtungen versehen. So werden Sie sich Ihrer Umgebung bewusst. Sie können sehen, was Sie erfüllt – und wo es vielleicht auch Lücken gibt.
Das kostenlose App Prism Lite kann Ihnen dabei gut helfen.

Es ist noch aufschlussreicher, wenn Sie das Blatt in vier Sektoren (oder Kuchenstücke) aufteilen: Familie, Freunde, Arbeit/Ausbildung, Gemeinde/Freizeit/Sport – gegebenenfalls zeichnen Sie ein fünftes Kuchenstück für die professionellen Helfer, mit denen Sie häufig in Kontakt sind (Ärzt*innen, Berater etc.).

Wie gefällt Ihnen das Bild, was sagt es Ihnen? Einige Fragen helfen:
– Welcher Art sind meine sozialen Beziehungen vorrangig: Freundschaft, Kollegialität, Familie?
– Gibt es viele Kontakte oder sind sie dünn gesät? Manchmal gibt es wenige starke Verbindungen oder eine grosse Anzahl schwacher, wenig verlässlicher Beziehungen.
– Wie schnell erreiche ich bei Bedarf einen Ansprechpartner?
-Kann mein augenblickliches Netzwerk für meine aktuelle Lebenslage Unterstützung bieten?
– Gibt es in meinen Beziehungen eine gute Balance von Geben (nährende Beziehungen) und Nehmen (konsumierende Beziehungen)?
– Halten die Beziehungen auch Rüttelstrecken und Krisen aus oder sind es nur Schönwetterbeziehungen?

Stehen Sie jemandem im Umfeld bei, der Hilfe benötigt und sich freut, wenn wir uns um ihn sorgen. Wer dies tut, geht erfüllter durchs Leben. Es tut uns gut, neben dem Job eine Aufgabe zu haben, einen Ort, an dem wir nicht in erster Linie leisten müssen.

Erschaffen Sie mehr Nischen, in denen Sie zu Hause sind, heimisch. Mit dem Begriff „Verbundenheit“ bekommen für mich „Heimat“, „Nostalgie“, aber auch „Placebo“ eine neue, stimmige Bedeutung. Beim Medikament/Mittel/Behandlung mit Placeboeffekt fühlt man sich abgeholt, heimisch, stimmig, kohärent, verbunden. Nostalgie bedeutet so viel wie das Glück, nach Hause zu kommen. Wenn wir das in einem geistigen Prozess tun, also uns vorstellen, nach Hause zu kommen, uns an Gerüche, Farben, Klänge, Naturorte, was auch immer unsere Heimat ausmacht, erinnern, führt dies dazu, dass die wahrgenommene Körpertemperatur steigt und wir weniger schmerzempfindlich sind – steckt schon im Wort nostos, griechisch für Heimkehr, und algos für Schmerz. Das ist wieder ein körperlicher Effekt, der über den Geist in Gang gesetzt wird. Man findet seinen Fokus und erinnert sich. Denn letztlich ist das ja wieder die Dimension der Verbundenheit, die wir dadurch bewusst herstellen können. Menschen sind in der Lage, ihren inneren Arzt zu aktivieren und ihre eigene Gesundheit zu stärken.

Achtsamkeit schafft Verbindung

Bei der Ausübung von Achtsamkeit geht es immer ums Ankommen. Ankommen im Hier und Jetzt. Wir kommen heim, nach Hause. Wir finden zu uns.
Wir sind viel gerannt, aber wir sind nie angekommen. Wir suchen immer noch etwas, sehnen uns nach etwas und haben es nie gefunden. Wir rennen immer weiter und wissen nicht, wie lange und wie weit wir noch rennen und suchen müssen. Wir wissen nicht mal wonach wir suchen.
Vielleicht suchen wir nach Glück, nach was wir meinen, nicht zu haben.
Doch das Wunder des Lebens ist nur im gegenwärtigen Moment verfügbar.
Die Achtsamkeitspraxis (wie z.B. im Zen-Buddhismus) hilft heimzukommen ins Hier und Jetzt. So können wir intensiver Leben, in Verbindung – und verschwenden es nicht.

Vertrauen schafft Verbindung

Mit Vertrauen und all seinen Facetten verbindet man sich und fühlt sich auch in grösseren Menschengruppen zu Hause (z.B. im eigenen Staat). Der Erfolg von ärztlichen und psychotherapeutischen Therapien steigt. Man fühlt alles als stimmig und kohärent.
Dagegen schafft Misstrauen Spaltungen in mir und zu Mitmenschen. Leben in dieser Dualität von „Gut und Böse“ heisst Leben in einer ewigen Disharmonie, was auch der Gesundheit sehr abträglich ist. Weiterlesen >>>

Die natürlichen Rhythmen schaffen Verbundenheit

Die Welt des Lebendigen mit seinen Rhythmen und Zyklen (Atmung, Puls, Tag/Nacht, Jahreszeiten…) steht nun im Widerstreit mit dem modernen Projekt des linearen Fortschritts und des unaufhörlichen Wachstums unserer Wirtschaft, also mit unserer Arbeitswelt. Es braucht einen neue Versöhnung dieser gegensätzlichen Prinzipien, eine Arbeitswelt, in der auch die zyklische Regeneration von uns Menschen, aber auch der Natur um uns Platz hat. Damit kann mensch sich auch in der Arbeit „zu Hause“ fühlen. Weiterlesen >>>

Verbundenheit durch Kohärenzgefühl

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Feinde der Verbundenheit

Misstrauen im Allgemeinen haben wir gleich oben gesehen.
Meist ist das Rückbesinnen auf die eigene Ursprungsfamilie dominiert von Gefühlen an strenge, kritische Eltern, Lehrer, Arbeitgeber und Geschwisterkämpfe. Diese spaltende Erinnerungen tragen wir häufig auch als „Inneren Kritiker“ oder Antreiber alltäglich mit uns herum und zeigen sich in harter Selbstoptimierung, Stress und Unzufriedenheit.
Versuchen Sie sich diese Feinde der Verbundenheit bewusst zu machen – und weniger wichtig. Auch, indem wir uns mehr auf das Verbindende, Entspannte, Zufriedene fokussieren.

Quellen:
Interview mit Tobias Esch in DER ZEIT

Foto mit Copyright durch Thomas Walser

Letzte Aktualisierung von Dr. med. Thomas Walser:
27. Januar 2024