Nächstenliebe und Fremdenhass oder Fremdenliebe? Vertrauen vs. Misstrauen? Kittung vs. Spaltung? Frieden vs. Krieg?

Zunehmend weht zwischenmenschlich ein kalter, meist hasserfüllter Geist der Spaltung, ein selbstgerechtes und respektloses Urteil über Andersartige, Fremde, Schwarze, Juden („Othering“). In der grossen Politik scheint dies in vielen Ländern geradezu Mode geworden zu sein. In Europa durch Brexit, AfD, Pegida, SVP, Rechtsruck in Polen, Weissrussland und Ungarn, rassistisch gesinnte Populisten an der Spitze der USA (unter Trump), Brasilien (unter Bolsonaro) Russland,…
In extremistischer Gesinnung (rechts oder links!) und allen monotheistischen Religionen leider schon immer.

Die Nächstenliebe ist beim abspaltenden Menschen trennend mit Fremdenhass kombiniert. Diese Polarisierung sieht man mehr bei steigender Ungleichheit, Wirtschaftskrisen und in vernachlässigten, abgelegenen, meist ländlichen Gebieten. Diese Menschen sind anfälliger für autoritären Populismus, Nationalismus („mein“ Land und „dein“ Land), Rechtsextremismus (aber auch Links-) und übrigens auch für Verschwörungstheorien.

Und immer, wenn das Pendel in diese Richtung schlägt, schwenkt es irgendwann in die andere zurück: Black lives matter! Hoffnung keimt.

Sexualität

Diese ab-trennende, ver-urteilende Tendenz widerspiegelt sich auch in unserem tabuisierenden Umgang mit der Sexualität. Die Abspaltung verdrängt den „Andersartigen“ an den Rand der Gesellschaft (Sexgewerbe, LGBTIQ*, Queer,…).
Anstatt zu respektieren, integrieren, zuzulassen, dem Mitmenschen also zu vertrauen, wird ihm misstraut.

Dies dient wohl der emotionalen Stabilisierung der eigenen Identität, da man so zu den „Normalen“ gehört.

Verschwörungstheorien, besser Verschwörungsmythen

Verschwörungstheoretiker, als Beispiel einer misstrauischen, „spaltenden Gesinnung“, streben häufig auch nach Überlegenheit. Sie wähnen sich im Besitz eines Geheimwissens, das anderen vorenthalten ist. Die übrigen Menschen sind hypnotisierte Naivlinge, „Schlaf-Schafe“, die erst einmal aus ihrem dogmatischen Schlummer aufwachen müssen. Verschwörungstheoretiker sehen sich als Systemkritiker, die nicht auf Täuschung hereinfallen. Man hebt sich so aus der trägen Masse raus und wird etwas Bedeutendes – verliert aber dabei seine Harmonie und Entspannung.
Unter diesen Verschwörungsmythikern finden sich auch sehr viel Alt-Hippies, Kinder der 68er-Umwälzungen, die stark durch die magischen Seiten dieser unheimlichen Narrativen angezogen werden.

Diese Magie liefert eine restlose Erklärung der Welt, eine „Allmacht der Gedanken“. Bestimmten Menschen werden dabei fast übernatürliche Kräfte zugeschrieben (Trump, Soros, Gates, Thunberg, Musk…). Ohnmacht wird dabei in Allmacht umgewandelt. Dies ist auch die Triebfeder der „Esoterik“. Das mythische Weltbild, in der die Magie einen Sinn gibt, ist restlos, voller Kräfte („Es gibt keine Zufälle!“) – Dinge sind beseelt und wirken aufeinander, in harmonischem Gleichgewicht. Auch in einer absolut inkohärenten Welt (Covidzeit, Krieg in der Ukraine…) ist die Ordnung wieder hergestellt – die Angst aufgelöst durch neue Harmonie und Kohärenz (alles ist erklärbar)!

Mit offenen Augen betrachtet spalten diese Verschwörungsmythen aber auch ganze Gesellschaften. Die schlimmsten und grausamsten Beispiele aus der Neuzeit sind noch immer die Ideen der Nazis über die jüdische Weltverschwörung und ihre Folgen…
Wir haben aber auch neue, die im Internet gleich viral werden: Suchen Sie mal nach „Greta Memes“, ein Blick in den Abgrund! Nackter, kalter Hass gegen Greta Thunberg! Greta: schuld an allem. Sprachrohr von geheimen Mächten, die ökosozialistische Ideen durchsetzen versuchen. Klimafaschisten.
Hier wird jemand Charismatischer, der die Weltjugend einigt, ausgegrenzt und mit Hass übergossen! Was läuft hier ab?

Auch hier dient dies wohl der emotionalen Stabilisierung der eigenen Identität, da man so zu den „Guten“ gehört, sich selber als wichtig erlebt.

Gesundheitlich bringt diese vermeintliche Wichtigkeit aber herzlich wenig – im Gegenteil: Der innere Frieden ist dahin, Gespanntheit und Stress sind die Folgen. Verschwörungstheorien können gerade in Angstzeiten, wie der Coronakrise enorm angstverstärkend wirken.

Autoritäre Kindheit führt zu spaltenden Menschen, auch zum Populisten.

Natürlich wird nicht jeder, der eine autoritäre Kindheit hatte, automatisch zum Rechts- oder Linkspopulisten. Aber wer populistisch denkt, hat mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit als Kind ein Weltbild erfahren, das eher durch Misstrauen als durch Vertrauen geprägt war. Jeder von uns verortet sich in seinem Leben durch biografische Erfahrungen auf einem Haltungsspektrum zwischen «Ist gut, ich kann vertrauen, die Menschen sind in Ordnung!» auf der einen Seite, und der Haltung «Ne, die Menschen sind nicht in Ordnung. Ich habe Angst. Ich brauche ein ordnendes Prinzip!» auf der anderen Seite. Wo auf der Linie zwischen diesen Polen wir uns befinden, hängt vor allem daran, wie wir selbst als Kinder Beziehungen erlebt haben.

Dazu gibt es eine gut strukturierte, umfassende Zusammenstellung auf dem Blog des Gewaltforschers Sven Fuchs – inzwischen auch als Buch verfügbar. Er hat in jahrelanger Kleinarbeit biografisches Material zu politischen Führern, Diktatoren und Extremisten zusammengetragen. Wenn man dort die Kinderstuben der bekannten rechtsautoritären Führer recherchiert, läuft einem der kalte Schauer über den Rücken. Donald Trump etwa wurde von einem dominant-autoritären Vater als 13-Jähriger von heute auf morgen aus dem Haus gejagt, in eine brutale Kadettenanstalt, wo schwere Misshandlungen an der Tagesordnung waren. «Du bist ein Killer, du bist ein König» ist das Lebensmotto, das Vater Trump seinem Sohn einbläute.

Gut und Böse

Leben in dieser Dualität von „Gut und Böse“ heisst Leben in einer ewigen Disharmonie. Diese Spaltung kann, wie wir leider zur Genüge wissen, auch gegen aussen sehr gefährlich und gewaltsam werden und schlussendlich zu Extremismus und Krieg führen. Stress und Spannung innen und aussen.

Deshalb lautet die wichtigste politische und alltägliche Entscheidung heute für uns Durchschnittsbürger wohl: Trägt man selbst mehr zum kittenden Vertrauen oder eher zum spaltenden Misstrauen der Gesellschaft bei?

Unsere jetzige vermeintlich grosse Freiheit erhält sich nur, weil wir die Frei­heiten von vielen anderen Menschen auf der Welt unter­drücken und wir die potenziellen Frei­heiten künftiger Generationen gefährden (Klimakrise!).

Nächstenliebe und eigene Freiheit ist doch nur vollständig und glücklich machend, falls sie mit der unbeschnittenen Freiheit der Mitmenschen und mit dem Vertrauen zu „Andersartigen“, Fremden einhergeht. Nimm Dich nicht mehr getrennt wahr, sondern sieh Dich auch in allem, was Dir begegnet. Eine Voraussetzung für den Frieden, auch dem inneren ist der Respekt vor dem Anderssein und vor der Vielfältigkeit des Lebens.

Klimakrise als Grundkonsens

Es hat alles mit der Vision zu tun, dass es zur Lösung dieser Klimakrise die Einheit aller Mitmenschen auf diesem Planeten benötigt. Bis wir alle anfangen, das Einssein als die Wahrheit zu sehen, eilen wir auf den unvermeidlichen und schlüssigen Beweis unseres grundlegenden, falschen Glaubens zu: den Glauben an Trennung, an Misstrauen, an fehlendem Glauben von gemeinsamen Lösungen.
Es geht doch darum, endlich zu erkennen, dass, wenn ich in dieser Krise gewinne und Sie verlieren, wir beide verlieren!

Ich glaube aber auch, dass die Wahrnehmung einer in zwei Extreme gespaltenen Öffentlichkeit ein Artefakt des Internets (der sozialen Medien, aber auch die Leitmedien und natürlich auch die politischen Talkshows) sein könnte. Das entspricht doch meist nicht den Tatsachen. Menschen haben viel differenziertere Überzeugungen, als das Internet suggeriert. Das heisst Menschen sind gar nicht entweder für oder gegen Waffenlieferungen, entweder für oder gegen Impfungen (es gibt bei uns 10% Covid-Leugner, aber 30% Covid-Skeptiker!). In Wirklichkeit urteilen die Menschen also meist nicht so dogmatisch – was auch für eine sehr gelingende Demokratie spricht.

Heizgesetz, Gendersternchen, Bauernproteste: Unsere Gesellschaft ist gespalten. Das hört man in Talkshows, Meinungsbeiträgen oder politischen Reden. Aber stimmt das?   
Einige dieser „gefühlten Wahrheiten“ halten einem genaueren Blick nicht stand. Auch in Bezug auf die gesellschaftliche Polarisierung bewerten Forscher, wie etwa der Soziologie Steffen Mau, die Lage etwas anders. Er meint: In zahlreichen grundlegenden Fragen sei sich die Gesellschaft einiger als es scheint. Es gebe zwar Konflikte, auch jede Menge Wut. Doch selbst bei hoch politisierten Fragen sei oft ein Grundkonsens vorhanden. Etwa auch darüber, dass der Klimawandel eine Bedrohung darstellt. 

Daneben gibt es jedoch eine weitere Form der Spaltung: die affektive Polarisierung. Sie beschreibt, wie sehr Menschen Abneigung und Misstrauen gegenüber politisch Andersdenkenden entwickeln. Das Dämonisieren der politischen Gegner (etwa „Klimakiller“, „Vaterlandsverräter“, „Gender-Ideologen“) hat das Potential, langfristig tatsächlich zu einer Spaltung beizutragen. Aber: Es wird in der Regel von einer kleinen Gruppe befeuert, die – wie etwa die AfD oder die SVP – ein Interesse an einer Spaltung haben; und eben nicht von der Mehrheit.

Vertrauen in der Therapie

In der Psychotherapie verhindert Misstrauen alles und ist Vertrauen rundum matchentscheidend…

Weiterlesen über die Salutogenese in der Begleitung von Menschen und im eigenen Leben >>>

Hier mein Blog über die moralische, subjektive Bewertung von Menschen auf Grundlage tradierter Vorstellungen von GUT und BÖSE oder Schuld und Sühne lesen – im Gegensatz zur „ETHIK“, worunter ich die objektive Bewertung von Handlungen verstehe, anhand des Massstabs, ob sie die Interessen anderer angemessen berücksichtigen, ohne jemanden zu schädigen: Was du nicht willst, das man dir tut, das füg auch keinem andern zu!

Und über die Anerkennung von Unterschieden in der Liebesbeziehung.
Und über die goldene Regel der Ethik.

14 Merkmale des Ur-Faschismus nach Umberto Eco

Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
02. Februar 2024