Eine von Achtsamkeit und Gleichmut geprägte Psychotherapie der persönlichen Veränderung

Im Allgemeinen sind wir der Tatsache gegenüber blind, dass wir alle notwendigen Fähigkeiten besitzen, die uns glücklich und anderen gegenüber liebevoll machen.“
(D. T. Suzuki)

Gedanken und Gefühle nicht zu eigen machen

Haben Sie einmal probiert an einen ruhigen Ort zu gehen, sich hinzusetzen und fünf Minuten mit dem Denken aufzuhören?

Die ganze Zeit werden Ihnen dabei Ideen, Gedanken und Gefühle auftauchen. Normalerweise machen wir uns diese Gedanken immer zu eigen. Wir deuten sie, urteilen und „verschmelzen“ gleich mit ihnen.
Allerdings kommen viele dieser Ideen aus einem sehr tiefen, primitiven Teil unseres Gehirns. Unser Bewusstsein ist wie das Display eines Handys. Die ganze Zeit erscheinen Nachrichten – manche davon aus seriösen Quellen, anderen von dubiosen. Wir verstehen die Technik nicht, genauso wenig wie wir den Geist verstehen. Und genau wie man entscheiden kann, eine Mitteilung auf dem Smartphone nicht zu lesen, kann man auch eine Idee, die im Kopf auftaucht, verwerfen – oder nur akzeptieren, dass sie aufgetaucht ist und gleich weiterziehen lassen. Gleichmütig eben, was heisst, nirgends anzuhaften oder auch über nichts sofort ein Urteil abzugeben.

Wut, Angst und Sorgen

Wenn ein Teil von mir ärgerlich werden will, habe ich die Möglichkeit zu sagen: Darauf habe ich keine Lust, es würde mir meinen Nachmittag kaputtmachen. Viele negative Gefühle wie Angst und Sorge kommen aus evolutionär alten Hirnarealen und waren mal sinnvoll, damit Menschen überleben. Oder sie entstanden in der Kindheit durch Urteile und Glaubenssätze, die wir in schwierigen Situationen erschaffen und sich sogar zu Kernüberzeugungen eingemeisselt haben.
Heute sind sie nicht mehr sinnvoll. Diese Glaubenssätze und Kernüberzeugungen sind meist nicht Ihr Freund, sie sind häufig Ihr Feind.

Anti-narzisstische Schule

Dieser unpersönliche Blick, der das »Theater« um die eigene Person nicht unterstützt, kann für manche Sinnsucher, die sich selbst sehr wichtig nehmen, als Schlag ins Gesicht empfunden werden. Man kann dies als eine anti-narzisstische Schulung verstehen, die dem Schüler beibringen kann, nicht alles so persönlich zu nehmen.

Eine der wissenschaftlich am besten untersuchten Methoden um die Verschmelzung mit unseren Gedanken und Gefühle aufzulösen, ist die sogenannte Acceptance and Commitment Therapy, kurz ACT genannt. Sie zielt unter anderem darauf ab, gegen Gedanken und Gefühle nicht länger zu kämpfen, sondern sie als das zu erkennen, was sie sind: Gedanken, einfach nur Gedanken – Gefühle, einfach nur Gefühle.
Die wesentlichen Kognitionen und deren Wirkung werden erfasst, aber es wird kaum am Inhalt der Gedanken gearbeitet, sondern vielmehr an der gleichmütigen Beobachtung der Gedanken oder Gefühle, im Wissen, dass es ja nur Gedanken oder Gefühle sind. Nicht was wir denken ist das „Problem“, sondern wie wir unsere Gedanken beurteilen.
„Kognitive Fusion“ nennt ACT diese seltsame Angewohnheit, jeden Gedanken oder jedes Gefühl für wahr zu halten und es gleich auch zu beurteilen. Die ACT kennt zahlreiche Methoden, die uns helfen, uns von unserem Gedankenstrom zu distanzieren.

Psychotherapie nach der Erleuchtung

Jack Kornfield beschreibt in seinem Buch „Nach der Erleuchtung Wäsche waschen und Kartoffeln schälen“ etliche Meditationslehrer, die sich nach tiefen spirituellen Einsichten einer Psychotherapie unterzogen haben, um die verschiedenen Ebenen besser miteinander zu verbinden. Er berichtet aber auch von Lehrern, die sich über diese aussergewöhnlichen Erfahrungen narzisstisch erhöht haben und nicht in der Lage waren, dies selbstkritisch zu reflektieren.

Und die kognitive Verhaltenstherapie?

Joshua Rothman, ein Autor im The NewYorker denkt als Student, dass er sein Leben im Griff hat – bis ihn eine Panikattacke überfällt, ausgelöst von Zukunftsängsten. Er findet heraus, dass ungefähr die Hälfte seine Mitstudenten ebenfalls unter solchen Ängsten leidet. Eine davon erzählt ihm von der kognitiven Verhaltenstherapie (CBT) als mögliche Lösung für ihre Angstzustände:

…eine rationale Art der Therapie, erklärte sie, die sich darauf konzentriert,  Emotionen zu beeinflussen, indem man Denkmuster überprüft und anpasst.

Attraktiv an der CBT ist für viele, dass dieser Ansatz betont rational ist und das Ziel hat, Menschen mit der Zeit unabhängig von Therapeuten zu machen, indem sie lernen, die Prinzipien ohne äussere Unterstützung in ihrem eigenen Leben anzuwenden. 

Freudsche Denker hatten sich unseren Verstand als hydraulische Maschine vorgestellt, in der der Druck gegen Widerstände und psychische Kräfte ansteigt, die in der Flasche stecken bleiben könnten. Das kognitive Modell stellt sich dagegen eher wie ein Computer dar. Falsche Informationen könnten, wenn sie an einer entscheidenden Stelle gespeichert werden, systemweite Probleme verursachen; irrationale oder ungenaue Denkmuster könnten Gefühle oder Verhaltensweisen auf kontraproduktive Weise beeinflussen und umgekehrt.
Programmierer haben eine ähnliche Idee, wenn sie sagen: „Garbage in, garbage out“.

Unsere Gefühle und Gedanken rational kontrollieren?

Kann man wirklich irrationalen Stimmungen und Gefühle unter eine rationale Kontrolle bringen? Manche Expertinnen zweifeln daran. So etwa der Psychiater und Neurowissenschaftler Judson Brewer, der in CBT ausgebildet wurde und eine lange Zeit damit selbst Patienten behandelt hat. Heute ist er Direktor für Forschung und Innovation am Mindfulness Center der Brown University in Providence an der US-Ostküste.  
Es geht darum, sich aus seiner Situation herauszudenken. Sie ändern buchstäblich Ihre Wahrnehmung“, sagt er. Aber anders zu denken, ist seiner Meinung nach nicht immer der richtige Ansatz.
„Die Vorstellung, dass wir unsere automatischen Gedanken in Frage stellen und anpassen können, gibt uns das Gefühl, die Kontrolle zu haben“, so Brewer weiter, aber das ständige Ringen mit unseren Gedanken kann selbst zu einer schlechten mentalen Angewohnheit werden: Wenn Sie sich ängstlich fühlen, besteht die beste Herangehensweise vielleicht nicht darin, Ihre ängstlichen Gefühle zu hinterfragen oder einen rationalen Gegenangriff zu starten, sondern einfach die Angst zu bemerken und sie dann vorübergehen zu lassen.

„Sie verschwindet dann von selbst“, so Brewer. „Wenn man sie aber wegschiebt oder sich mit ihr beschäftigt oder sich mit ihr herumschlägt, wird sie wachsen.“

Eine von Achtsamkeit und Gleichmut geprägte Therapie der persönlichen Veränderung

Judson Brewer ist mittlerweile ein überzeugter Vertreter dieser Art Theorie und Therapie der persönlichen Veränderung, die ihre Wurzeln in der sogenannten buddhistischen Psychologie hat.
Ich nenn sie lieber buddhistische Lebenskunst und teile auch mit Brewer dieselbe Erfahrung meiner letzten Jahren therapeutischen Arbeit, welche bestätigen, was Brewer weiter so ausdrückt:

„Bei der Achtsamkeit geht es darum, die Beziehung zur Kognition zu verändern. Der Gedanke ist bereits da. Wir haben keine grosse Kontrolle über ihn. Er wird immer wieder auftauchen. Aber man kann ihn beobachten, und indem man ihn beobachtet, kann man seine Beziehung zu ihm ändern.“

Kernüberzeugungen und Glaubenssätze

Letztlich kommt Joshua Rothman zu dem Schluss, dass es wichtig ist, zu verstehen, wie therapeutische Modelle Menschen Möglichkeiten bieten, sich selbst zu beschreiben. Diese Modelle sind aber keine objektiven Beschreibungen der Psyche, sondern Hilfsmittel, um sich an ihr abzuarbeiten. Das funktioniert aber nur, wenn man an bestimmte Konzepte glaubt.

Haben wir wirklich „Kernüberzeugungen“? Sind wir wirklich von unseren „automatischen Gedanken“ geprägt? Allein dadurch, dass wir solche Vorstellungen äussern, können wir sie fast wahr machen. Indem wir an die Beschreibungen glauben, ermöglichen wir es der Therapie, von der Theorie in die Praxis zu gleiten.

Wenn die Achtsamkeit etwas Schönes berührt, offenbart sie dessen Schönheit. Wenn sie etwas Schmerzvolles berührt, wandelt sie es um und heilt es.
- Thich Nhat Hanh

Achtsam und gleichmütig denken und fühlen

Bei der Achtsamkeit geht es darum, alles wahrzunehmen und anzunehmen, was kommt, ohne sich dabei jedoch von den Gedanken und Gefühlen gefangen nehmen zu lassen.
Auf diese Weise kann auch das Denken zu Achtsamkeit führen. Dazu beobachten wir die Gedanken, wie sie aufkommen, abflachen und verschwinden wie Wellen im Meer. Wir stehen am Strand und lassen uns nicht von ihnen fortspülen, doch wir nehmen sie wahr.

Grosse Achtsamkeit mit schlechter Emotionsregulation kann negativ enden. Wenn man zum Beispiel stark auf das eigene Befinden fokussiert und zugleich kaum fähig ist, mit eigener Kraft aus schlechter Stimmung herauszukommen. Darauf setzt wahrscheinlich eine Grübelspirale ein.

Mit Meditation kann man lernen, dass Gedanken und Gefühle sich nicht einnisten, nicht haften bleiben und von uns nicht beurteilt werden, sondern auch wieder vorbeiziehen oder in Lösungen umgewandelt werden.

Achtsamkeit bewirkt, Dinge wahrzunehmen, aber dann auch zu ändern, was geändert werden muss – und nicht nur zu akzeptieren! Gleichmut heisst, möglichst wenig zu urteilen, also gleichmütig zu betrachten.

Wie Studien zeigen, führt eine regelmässige meditative Praxis nicht automatisch dazu, dass sich psychische Probleme auflösen und verschwinden; durch die Praxis ist die eigene Emotionalität und Kernüberzeugungen besser im Blickfeld und eigene „Schwächen“ können schneller und tiefgreifender wahrgenommen und akzeptiert werden, was den Umgang damit verbessert und pathologischen Fixierungen entgegenwirkt.

aus Philosophie Heute

Mein eigener Weg zum Psychotherapeuten

Neben meiner ärztlichen Ausbildung in der Schweiz, durchlebte ich bereits in der Anfangszeit meiner Hausarzttätigkeit eine mehrjährige Ausbildung für Rolfing (strukturelle Integration nach Ida Rolf) in Esalen, Boulder Colorado und München. Später dann auch eine psychotherapeutische Grundausbildung zum Gestalttherapeuten nach Fritz Perls und in Existentieller Psychotherapie nach Rollo May und Irvin D. Yalom. Zudem war für mich als Hausarzt immer die systemische Sicht elementar und wird durch die Systemische Familientherapie und Sexualtherapie (Ulrich Clement) in meiner Einzel- und Paartherapie weiter genährt.

Weiterlesen:
Nicht was wir erleben, sondern wie wir wahrnehmen was wir erleben, macht unser Schicksal aus.
Sehe ich oder interpretiere ich?
Acceptance and Commitment Therapy

Diese Lebenskunst des Buddhismus hat viele Ähnlichkeiten mit den Ideen des Stoizismus.

Sich vertiefen:
„Buddhistische Basics für Psychotherapeuten“ von Michael von Brück, Ulrike Anderssen-Reuster (auch für Laien!)

Quellen:
Can Cognitive Behavioral Therapy Change Our Minds? by Joshua Rothman, The New Yorker, July 10, 2023
Hilft kognitive Verhaltenstherapie wirklich? von
Theresa Bäuerlein in Piqd, 12.07.2023

Foto von Andrei Shiptenko auf Unsplash

Letzte Aktualisierung von Dr. med. Thomas Walser:
01. März 2024