Gelassenheit resultiert aus dem Gegenteil von „Loslassen“, was landläufig oft mit Gelassenheit assoziiert wird. Echte Gelassenheit würde ich eher als „Seinlassen“ bezeichnen. Seinlassen heisst, dass wir nicht versuchen, es zu ändern oder uns zu einem Einverständnis zu zwingen. Vielmehr erkennen wir einfach an, was da ist, und sagen ja dazu. Es muss uns nicht gefallen, aber wir müssen es auch nicht als Feind sehen. Wir müssen nur bereit sein, eben das zu erleben, was unser Leben genau jetzt ist.
„Es isch wie‘s isch!“, wie wir so gelassen in der Schweiz sagen.
Eine Methode zum Erlangen von Gelassenheit besteht darin, kleine positive Erlebnisse, die man im Alltag erlebt – wie etwa ein freundliches Lächeln, das einem jemand schenkt, oder ein Akt der Hilfsbereitschaft – in Ressourcen umzuwandeln. Wir nehmen eine kleine heilsame Erfahrung wahr, die wir gerade machen. Bleiben zehn, zwanzig Sekunden dabei, damit sie wirklich tief einsinken kann, und machen dies ein paar Mal am Tag, immer wieder. So bauen wir Widerstandskraft, Selbstmitgefühl und einen Sinn für unseren persönlichen Wert auf, was die Gelassenheit massiv stärkt.
Fünf Hindernisse für ein gelassenes Leben
Es passiert etwas. Uns passiert etwas, das wir uns vielleicht anders gewünscht haben. Schnell lassen wir uns dann davon mitreissen, ärgern uns, verzweifeln, fürchten, dass nun die Welt untergeht.
Das Wort „passieren“ meint aber eigentlich „vorbeifahren“.
Wenn etwas passiert, dann fährt es an uns vorbei, nicht über uns rüber, dass wir den Boden unter den Füssen verlieren.
Wir müssen es nur lassen.
Statt aufzuspringen können wir das, was uns passiert, nur betrachten, bis es von selbst vorbei geht.
So wie in Theodor Fontanes Gedicht „Überlass es der Zeit“:
Erscheint dir etwas unerhört,
Bist du tiefsten Herzens empört,
Bäume nicht auf, versuch’s nicht mit Streit,
Berühr es nicht, überlass es der Zeit.
Am ersten Tag wirst du feige dich schelten,
Am zweiten lässt du dein Schweigen schon gelten,
Am dritten hast du’s überwunden,
Alles ist wichtig nur auf Stunden,
Ärger ist Zehrer und Lebensvergifter,
Zeit ist Balsam und Friedensstifter.
Wenn wir der Zeit, dem Lauf der Dinge, etwas überlassen, werden wir gelassen – in Ruhe gelassen.
Dafür brauchen wir Achtsamkeit: wahrnehmen, was ist, uns dem Leben, dem Moment, den Gefühlen und Gedanken öffnen, ohne anzuhaften.
Achtsamkeit können wir üben, doch stehen dieser Übung und damit unserem Leben voller Achtsamkeit und Gelassenheit einige Hindernisse im Weg.
Es folgen fünf dieser Hindernisse:
- „Mir fehlt die Zeit“
Achtsamkeit kostet keine Zeit, sie macht es erst möglich, die Zeit voll zu erleben, ganz gleich, mit was wir gerade beschäftigt.
Womit bist Du so beschäftigt, dass Du nicht einmal zehn Minuten am Tag für Dich hast, ganz für Dich, für Deinen inneren Frieden?
Je mehr Du glaubst, keine Zeit dafür zu haben, umso wichtiger ist es, sie Dir zu nehmen.
Weiterlesen >> walserblog.ch/2017/02/17/zeit-vs-geld/
. - „Mir fehlt die Geduld“
Wenn wir achtsamer werden wollen, sollten wir uns reichlich Zeit dafür nehmen. Die meisten von uns werden dabei jedoch sehr schnell ungeduldig. Doch gerade die Übung der Achtsamkeit benötigt Geduld:
Du bist eine Sekunde lang vollkommen bewusst und in der nächsten bist du vielleicht unachtsam. Aber sei dir bewusst, dass du unachtsam bist. Sage nicht: „Unachtsamkeit muss zur Achtsamkeit werden.“ Dadurch erzeugst du nur einen Konflikt und in diesem Konflikt hören Bewusstheit und Achtsamkeit vollkommen auf. (Krishnamurti)
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Bei der Achtsamkeit ist der Weg wichtig, nicht das Ziel – es gibt hierbei gar kein erreichbares Ziel jenseits des Moments, jenseits dessen, was ist – und sei es, entspannt zu bemerken, dass man gerade unachtsam war.
Das Schöne ist: Schon dadurch, dass wir beim Üben geduldig sind mit uns, werden wir auch in anderen Situationen geduldiger und gelassener.
. - „Mich auf das einzulassen, was ist, tut mir zu weh“
Du wirst womöglich wütend. Oder traurig. Oder ängstlich und besorgt.
Dennoch, nein gerade deswegen solltest Du dein Gefühle und Gedanken wie Vögel vorbeifliegen lassen. So können sie sich nicht auf deinem Kopf einnisten.
Sich gegen unsere Gefühle und Gedanken mit aller Gewalt zu stemmen, ist auf Dauer chancenlos. Weder kannst Du sie in die Flucht schlagen, noch selbst vor ihnen fliehen.
Es gibt keine falschen Gefühle und Gedanken. Nur solche, die Dich umso mehr beherrschen, je mehr Du gegen sie kämpfst.
Lass sie zu, aber gib ihnen nicht zu viel Macht. Dann lassen sie Dich los.
Immer öfter wird in neueren Psychotherapieformen (und schon lange Zeit im Zen-Buddhismus) deshalb nicht mehr der Inhalt der Gedanken und Gefühle als das eigentliche Problem betrachtet, sondern die Art und Weise, wie wir mit diesen umgehen und nach welchen Prinzipien unser Verstand funktioniert.
Nicht was wir denken ist das Problem, sondern wie wir unsere Gedanken beurteilen.
Weiterlesen über die Störung der Gelassenheit, des Inneren Friedens durch “alltäglichen, kleinen” Ärger, Sorgen, Trauer…
. - „Ich will doch nicht gleichgültig werden – ich habe Ziele!“
Gelassen sein bedeutet für mich auch nicht, dass uns die Zukunft völlig egal wird. Nein, es ist eher so, wie Ernst Reinhardt sagte: „Gelassenheit nimmt das Leben ernst, aber nicht schwer.“
Gegen Ziele ist nichts einzuwenden. Sie sollten aber kein Anzeichen von Mangel sein.
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Ich werde gelassen, wenn ich mit dem, was ist, zufrieden und glücklich bin.
Die meisten Ziele setzen wir uns doch, um „glücklicher“ zu werden. Dann erreichen wir sie entweder nicht und bleiben unglücklich, oder erreichen sie, sind kurz glücklich und setzen uns danach neue Ziele, die eine neue Kluft schaffen zwischen dem, was wir haben und geniessen könnten, und dem, was wir gern anders hätten.
Willst Du erfolgreicher werden, irgendwann … oder Frieden finden, noch heute?
Lies weiter über diese sogenannten „Miswantings“ und Anhaftung…
. - „Ich will die Kontrolle nicht verlieren“
„Klar, das Leben macht mit einem, was es will, aber wenigstens mich selbst habe ich unter Kontrolle!“, magst Du denken. Und die Kontrolle verlieren, nein, das möchtest Du nicht.
Aber ist es wirklich wahr: Hast Du wirklich die Kontrolle über Dich?
Wenn ja, dann konzentriere Dich ohne abzuschweifen für nur eine Minute auf Deinen Atem, nur auf Deinen Atem. Schwierig … hmm?
Wenn Dir bereits eine scheinbar so einfache Aufgabe so schwer fällt, wie viel Kontrolle wirst Du wohl wirklich über Dich haben?
Erst die Übung der Achtsamkeit schafft Kontrolle und Sicherheit in aller Unsicherheit, die Dich umgibt.
Weiterlesen über zu viel Disziplin und Selbstkontrolle >>
walserblog.ch/2017/07/21/zuviel-disziplin/
Morphium ist der Botenstoff des Alters –
und damit vielleicht auch ein Grund für mehr Gelassenheit
Der menschliche Körper kann Morphium produzieren, einen Botenstoff, der ein besonderes Hochgefühl auslöst, ein Gefühl tiefer innerer Zufriedenheit.
Doch es gibt noch zwei weitere Botenstoffe des Menschen: Dopamin und Adrenalin. Der erste ist eine Vorstufe des Morphiums, er löst Vorfreude aus, Glücksmomente, die beim Erleben dann rasch zerrinnen. Der zweite wird bei Stress ausgeschüttet, versetzt den Körper in Alarm und hilft so, Hindernisse zu überwinden. Adrenalin beeinflusst seinerseits die Morphiumbildung – und andersherum. Die Botenstoffe können ineinander übergehen: Aus Dopamin wird mithilfe von Adrenalin Morphium gebildet.
Es herrscht eine biologische Logik. Welche wird klar, wenn man die U-Kurve der Lebensfreude ansieht:
Die Lebenszufriedenheit (und damit die Gelassenheit) steigt im Alter an!
Die Wirkung dieser Botenstoffe passt genau zu den drei Lebensphasen. Dopamin steht für das jugendliche Glück, den Aufbruch, die Ekstase, das Lernen. Bei Adrenalin geht es um das Meistern von Problemen, um die Leistungsbetontheit, die steile Karriere.
Und Morphium bringt die Glückseligkeit des Alters.
Es gibt ein komplexes Wechselspiel zwischen Lebensabschnitt, Lebensumständen und der Konzentration der Botenstoffe im Körper, welches dazu führt, dass bei den Jungen besonders viel Dopamin ausgeschüttet wird, bei den Mittelalten mehr Adrenalin und bei den Älteren mehr Morphium.
Gelassenheit erleben durch psychedelische Drogen
„Auf jeden Fall vermute ich, dass ich bereits gefunden habe, wonach ich gesucht habe: einige neue Erkenntnisse und zumindest ein bisschen Gelassenheit. Zwar bin ich nach wie vor unsicher, was die letztendliche Struktur der Welt angeht, aber ich habe auch neue Neigungen und neue Sympathien für Darstellungen, die ich zuvor für völlig uninteressant gehalten hatte. Diese Erweiterung ist selbst eine Art von neu gefundenem Wissen, auch wenn sie keine neuen Gewissheiten enthält. Was die Gelassenheit betrifft, so gibt es wirklich nichts Besseres als eine eindringliche Erfahrung der Illusion von Zeit, um die Angst vor der Kürze und scheinbaren Sinnlosigkeit dessen, was wir als unseren zeitlichen Aufenthalt erleben, zu verringern. Und es gibt wirklich kein beruhigenderes Gefühl, als sich der allgegenwärtigen und dichten Präsenz anderer Wesen wie der eigenen bewusst zu werden – oder zumindest einen Zustand zu erreichen, der die Existenz solcher Wesen zu bestätigen scheint.“ (This Is a Philosopher on Drugs, Justin E. H. Smith in WIRED, Mar 7, 2023: I was at the lowest point in my life. I needed a mind-altering jolt. In the end, everything—even the meaning of “everything”—changed.)
Bedürfnishierarchie und Perspektivenwechsel
Um es klarzustellen: Wir bewegen uns hier an der Spitze der Maslowschen Bedürfnispyramide, da in unserer Ersten Welt die Basisstufen satt befriedigt sind. Wir können uns also (elitär?) mit Werten wie „Selbstoptimierung“ oder Selbstverwirklichung“ befassen…

(aus Wikipedia).
Weiterlesen >>> Wie kann ich gelassener werden und Inneren Frieden erleben?
Quellen:
D.T. Wilson et al.: „Just think: The challenges of the disengaged mind“, Science 345 (6192), 2014
E.C. Westgate et al.: With a little help for our thoughts: Making it easier to think for pleasure“, Emotion 17 (5), 2017
W. Wolff et al.: „Bored into depletion?“, Perspectives on Psychological Science, 15 (5), 2020
Tim Schlenzig in myMonk (5 Hindernisse)
Foto von Keegan Houser auf Unsplash
Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
16. Mai 2023