Prokrastination

Was unterscheidet das normale Aufschieben vom „krankhaften“ Prokrastinieren?

Menschen sagen sehr schnell, dass sie prokrastinieren. Bei grossen Befragungen in sechs Ländern gab etwa ein Viertel an, Prokrastination sei eines ihrer entscheidenden Persönlichkeitsmerkmale. Bei einer Befragung von Studierenden gab nur ein Prozent an, nie zu prokrastinieren.

Die Steuererklärung machen, die schon seit anfangs Jahr rumliegt? Oder lieber erst mal den Flur streichen? Sicher aber mal nur mein Smartphone zücken und Whatsapp checken… Wenn jemand unter ständigem Aufschieben leidet und es seinen Alltag erheblich beeinträchtigt, kann dies bereits auf die eigentliche Prokrastination hinweisen.
Beziehungen können deshalb in Brüche gehen. Es können Studienabbrüche, finanzielle und körperliche Folgen (Schlafstörungen, innere Unruhe, Verdauungsprobleme, Anspannungen, Kopfschmerzen, Dauerstress,…) entstehen.

Alltag mit viel Freiheit und wenig Struktur

Ein Team der Sophiahemmet-Universität in Stockholm hat die Daten von 2600 Studenten ausgewertet. Studierende sind besonders anfällig für das Aufschieben von Pflichten, schreiben die Forscher*innen. Ihr Alltag bietet viel Freiheit und vergleichsweise wenig Struktur; das verlangt ihnen eine besondere Fähigkeit zur Selbstregulierung ab. Doch längst nicht jeder hat diese Gabe. Und auch der dafür zuständige Hirnteil (der präfrontale Lortex) ist erst etwa mit 24 Jahren bei allen voll ausgebildet. Bis zu 50 Prozent aller Studenten neigen deshalb angesichts drängender Aufgaben zum Trödeln.
In der Allgemeinbevölkerung gehen Schätzungen von bis zu 20 Prozent aus.

Die jungen Menschen aus Schweden wurden im Laufe von neun Monaten mehrmals danach befragt, wie sehr sie zum Prokrastinieren tendieren und wie es um ihre Gesundheit, ihre sozialen Beziehungen und ökonomischen Belange steht. Es zeigte sich, dass Studierende die stärker prokrastinierten, tendenziell häufiger an Depressionen, Ängstlichkeit, Stresssymptomen und Schlafproblemen litten. Die Betroffenen berichteten auch etwas öfter über Bewegungsmangel, Einsamkeit und finanzielle Probleme. Aus nicht näher erklärten Gründen litten sie auch häufiger unter Schmerzen der Arme. Keinen Zusammenhang fand das Team mit anderen Schmerzen, dem allgemeinen Gesundheitszustand sowie dem Konsum von Tabak, Alkohol und Cannabis.
Signifikante positive Effekte des Prokrastinierens zeigten sich nicht. (Berit Uhlmann in der ZEIT, 01/23)

Test ob die eigene „Aufschieberitis“ nur lästig ist oder schon Krankheitswert hat >>

Prokrastination bringt Stress und Spannungen

Als Konsens aber kann gelten, was ein internationales Team vor einigen Jahren in einem Überblicksartikel schrieb: Prokrastinieren kann für einige Menschen problematisch werden, für die Mehrheit aber ist es eher eine unangenehme Eigenschaft.
Auch wenn Prokrastinieren nicht immer zu schlechteren Leistungen führt, wird es im Bereich von Arbeit und Ausbildung kaum als besonders hilfreiches Verhalten angesehen, da es zu unnötigem Stress und Spannungen führt.

Kann pathologisches Aufschieben auch Symptom einer psychischen Krankheit sein?

Ja, zum Beispiel als Symptom einer Depression. Manchmal tritt Prokrastination auch im Zusammenhang mit dem posttraumatischen Belastungssyndrom auf oder bei der Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störung, ADHS, weil sich Betroffene nicht richtig auf eine Aufgabe konzentrieren können. Aber das bedeutet umgekehrt nicht, dass jemand, der an Prokrastination leidet, automatisch ADHS hat.

Die „echte“, eigenständige Prokrastination ist wohl erlernt: „Das Prokrastinationsverhalten entsteht dadurch, dass ich in einer bestimmten Situation darauf ausgerichtet bin, kurzfristig einen positiven Effekt zu bekommen und ebenso kurzfristig einen negativen Effekt zu vermeiden. Ich sollte zum Beispiel, wenn ich mich für eine Klausur vorbereite, mitbedenken, was mir Angst macht. Deshalb greife ich zum Handy, spiele ein Minispiel, und damit nimmt die Angst ab. Diese Erfahrung kann langfristig einen negativen Verstärkungseffekt haben.“ (Stephan Förster in der Zeit)
Wenn aber Prokrastinieren ein erlerntes Verhalten ist, das ist die gute Nachricht, kann ich es auch wieder verlernen. Aus diesem Grund ist es auch nicht unbedingt notwendig, zu wissen, warum es zum Prokrastinieren gekommen ist, sondern dass ich verstehe, wie es aufrechterhalten wird.

Was kann ich gegen meine Prokrastination tun?

Der erste Schritt, um weniger zu prokrastinieren, ist die Erkenntnis, dass konkurrierende Ichs in uns ein Problem miteinander haben. Ein Ich etwa vertritt unsere kurzfristigen Interessen (Spass haben, Fernsehen, Arbeit aufschieben usw.), während das andere Ich langfristigen Ziele erreichen will (eine Master-Arbeit abgeben, eine Karrierestufe nehmen etc).  Vereinfacht gesagt ist sie ein Kampf zwischen zwei Bereichen deines Gehirns: dem limbischen System (stell es Dir als dein inneres, vierjähriges Ich vor) und dem präfrontalen Kortex (welcher erst mit etwa 24jährig voll entwickelt ist – bei Männer später als bei Frauen…). Das limbische System strebt nach sofortiger Befriedigung, während der präfrontale Kortex mit Planen und Entscheiden beschäftigt ist. Sofortiger Genuss gegen ferne Belohnung.

Für den Philosophen Don Ross liegt der Schlüssel darin, diese verschiedenen Ichs miteinander verhandeln zu lassen. Das fernsehende Ich ist zwar nur daran interessiert, fernzusehen. Es will aber nicht nur jetzt, sondern auch in der Zukunft fernsehen. Das bedeutet, dass man mit ihm verhandeln kann: Wenn man jetzt arbeitet, kann man in Zukunft mehr fernsehen.
Prokrastination ist in dieser Lesart das Ergebnis eines schief gelaufenen Verhandlungsprozesses.

Neuere Untersuchungen legen nahe, dass die Prokrastination mehr mit dem Umgang mit Gefühlen zu tun hat denn dem mit Zeit. Gehirnscans lassen vermuten, dass Menschen , die oft prokrastinieren, nicht besonders gut darin sind, Gefühle und Ablenkungen zu filtern. Es existiert ein klarer Zusammenhang von Impulsivität mit Prokrastination. Geht es um impulsives Handeln, sollte man kurz innehalten, statt dem Impuls nachzugehen. Geht es um Prokrastination, sollte man auf der Stelle etwas tun, anstatt abzuwarten. Der gemeinsame Nenner ist die Selbstkontrolle.
Weiterlesen über die Selbstkontrolle >>

Frage Dich nach dem Warum

Vielleicht ist es langweilig oder frustrierend, oder es macht dir höllisch Angst, und du fühlst dich wie ein Hochstapler oder Versager? Ist die Aufgabe zu gross und überwältigend? Fehlen dir Hilfsmittel? Fehlt dir das nötige Selbstvertrauen?
Interessanterweise fand eine Studie heraus, dass du wahrscheinlich beim nächsten Mal nicht mehr prokrastinierst, wenn du dir das Prokrastinieren selbst verzeihen kannst. Wenn wir uns verzeihen, verringern wir die mit einer Aufgabe verbundenen negativen Gefühle, die uns ansonsten dazu bringen können, sie das nächste Mal meiden zu wollen. Wenn du dich auf das gute Gefühl nach dem Erledigen einer Aufgabe konzentrieren kannst, hast du viel mehr Motivation, eine neue anzugehen.

„Aufschieberitis“ durch Aufteilen der Aufgabe vermeiden

Lösungen sind also häufig ein „Reframing“ der vor mir liegenden Aufgabe.
Prokrastination wird ja zum Teil durch die Diskrepanz zwischen der Anstrengung (die jetzt erforderlich ist) und der Belohnung (die Du erst in der Zukunft ernten, wenn überhaupt) verursacht. Es hilft also, diese Kluft mit allen Mitteln zu verkleinern.
Da offene Aufgaben mit weit entfernten Terminen viel leichter aufgeschoben werden können als fokussierte, kurzfristige Projekte, hilft es, Projekte in kleinere, besser definierte Abschnitte zu unterteilen. Je vager die Aufgabe oder je abstrakter das Denken, das sie erfordert, desto unwahrscheinlicher ist es, dass man sie zu Ende bringt.

Behandlung durch Arbeitszeit-Restriktion

Die Psychologinnen Anna Höcker und Margarita Engberding haben für die Therapie der Prokrastination eine Starthilfe gefunden. Inspirieren liessen sie sich von einer radikalen aber sehr effektiven Behandlung von Schlafstörungen: Man verbietet Patienten das Schlafen. Hinlegen dürfen sie sich nur ausnahmsweise, während kurzer, festgelegter Zeiten. Und plötzlich schlafen sie besser.
Daraus haben Höcker und Engberding eine Behandlung gegen Prokrastination entwickelt, die sie »Arbeitszeitrestriktion« nennen: Arbeiten ist grundsätzlich verboten und nur ausnahmsweise erlaubt, in täglich zwei 20-Minuten-Zeitfenstern, deren Anfang und Ende festgelegt sind. Das verringert die »Längskonkurrenz«: die Möglichkeit, die Aufgabe später zu erledigen. Und erst wenn jemand diese Zeiten voll ausschöpft, darf er das Arbeitspensum nach und nach erhöhen.
Dieser einfache Trick verknappt die Arbeitszeit. Sie scheint nicht mehr unendlich, ist auf einmal kostbar. Das motiviert, die erlaubte Zeit auszuschöpfen, pünktlich anzufangen. Es hilft, in die Konzentration zu finden.

Quellen:
Podcast zur Abgrenzung, ob bereits eine pathologische Prokrastination vorliegt >>

TED Talk von Tim Urban
Interview mit Stephan Förster Zeit online, 18.09.17
P. Steel: „The nature of procrastination: a meta-analytic and theoretical review of quintessential self-regulatory failure“, Psychological Bulletin 133 (1), 2007
M.J.A. Wahl et al.: „I forgive myself: now I can study: How self-forgiveness for procrastinating can reduce future procrastination“, Personality and Individual Differences 48 (7), 2010
M.M.L. Rebetez et al.: „Procrastination as a self-regulation failure: The role of impulsivity and intrusive thoughts“, Psychological Reports 121 (1), 2018

Foto von Pedro Forester Da Silva auf Unsplash

Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
17. April 2023