Vertrauen

Der Anfang von allem

Ohne Vertrauen könnten wir nicht leben
Wir tun es minütlich, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden. Wir vertrauen. Dem Busfahrer, dass er einen Führerschein, Ortskenntnis und Verantwortungsbewusstsein besitzt. Dem Arzt, dass er weiss, wie man einen Blinddarm entfernt. Wir vertrauen dem Verfallsdatum auf der Dosenwurst. Kurz: Wir müssen vertrauen, damit wir unseren Alltag überhaupt bewältigen können, anstatt ganze Tage damit zu verbringen, etwa die Referenzen des Piloten im Urlaubsflieger zu überprüfen. Und wir wollen ja auch vertrauen: auf die Liebe, auf unsere Nächsten, darauf, dass die von uns gewählten Volksvertreter*innen zuverlässig zum Wohle aller agieren und dass die Wettervorhersage nicht irrt, wenn sie einen schönen Tag prognostiziert.

Urvertrauen in die Welt an sich
Um sich andere nahe gehen zu lassen, brauchte man etwas, das man als den Anfang aller Beziehungsfähigkeit bezeichnen kann: das Urvertrauen. Den Begriff prägte der Freud-Schüler und Entwicklungspsychologe Erik H. Erikson. Das „Gefühl des Sich-Verlassen-Dürfens“ war für ihn eines, das auf Erfahrungen im ersten Lebensjahr basiert. Wenn das Kind eine zuverlässige, liebevolle Versorgung durch eine stabile Bezugsperson erlebe, entwickle es ein grundsätzliches Selbst-Vertrauen, ein Vertrauen in andere Personen, in die Welt an sich, ein Aufgehobensein. Fehlt dagegen das Urvertrauen, sagt man Sätze wie „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“. Das Lebensmotto der pathologisch Misstrauischen.
(…)

Whistleblower mit Mut zum Vertrauensbruch
Klar, Judas, Brutus und Legionen von gebrochenen Herzen belegen, welche Verheerungen der Vertrauensbruch hinterlassen kann. Aber er hat auch gute Seiten. Wenn Whistleblower unter Einsatz ihrer eigenen Existenz wichtige Informationen an die Öffentlichkeit bringen und so das Vertrauen jener enttäuschen, die sich auf ihre Verschwiegenheit verlassen haben.
(…)

Vertrauen ist nicht per se gut, wie Misstrauen per se nicht schlecht sein muss. Wir brauchen beides und beides braucht Wissen und Erfahrung, um nicht „blind“ zu sein. Und um zu verstehen, dass gerade Vertrauenskrisen Vertrauen stärken. Bevor ich nicht weiss, wie sich etwa eine Freundin in einem Streit verhält, oder ob sich ein Rechtssystem bewährt, wenn wir unsere Rechte einklagen müssen, kann ich nicht wirklich vertrauen. Vertrauen findet gerade dort, wo Menschen sich auch in Konflikten über alle Gräben hinweg austauschen und verständigen können, überhaupt erst ideale Wachstumsbedingungen. Vorausgesetzt, man begegnet jenen, die vielleicht anders sind, andere Meinungen haben, andere Interessen verfolgen, kooperativ, mit Vertrauen darauf, dass auch sie nur das Beste wollen: ein friedliches Zusammenleben über alle Hürden hinweg. Am Ende ist das immer noch das Klügste. Denn ohne Vertrauen könnten wir weder befreundet sein, noch lieben, heiraten, Kinder bekommen oder auch nur in den Bus steigen, der uns zur Arbeit fährt – weil niemand auf diesem Planeten uns garantieren kann, dass das alles ganz bestimmt gut ausgehen wird.
(Zitiert aus den Zeitgeister von Constanze Kleis des Goethe-Instituts)

Vertrauen versus Skepsis, kooperativ vs. gierig,
Grosszügigkeit vs. Profitmaximierung

2002 untersuchte man die Hirnaktivität junger Frauen, als sie im Rahmen eines Strategiespiels zwischen einer «gierigen» und einer «kooperativen» Massnahme wählen mussten. Die Forschenden stellten Erstaunliches fest: Bereiche im Gehirn, die normalerweise bei der Aussicht auf Belohnung aktiviert werden, reagierten am stärksten, wenn die Frauen sich für eine kooperative anstatt für eine egoistische Strategie entschieden.
Die hellsten Signale entstanden in jenen Teilen des Gehirns, von denen man weiss, dass sie auf Desserts, hübsche Gesichter, Geld oder Kokain reagierten, erklärte einer der beteiligten Psychiater in der «New York Times».

Aber was heisst das?
Nun, wenn wir zusammenarbeiten, uns also für Vertrauen und gegen Skepsis entscheiden, für Grosszügigkeit und gegen Profitmaximierung, dann löst das in uns eine ähnliche Begeisterung aus wie die Aussicht auf Schokolade (oder Kokain).
Noch einmal anders: Die Aussicht, mit anderen (gut) zusammenzuarbeiten, erfüllt uns mit grösserer Freude, als die Aussicht, sich in einem Wettbewerb gegen andere durchzusetzen.
Die Entdeckung markierte einen Paradigmenwechsel in der Psychologie. Denn bis dahin war man davon ausgegangen, dass unser tiefster Impuls Gewinnmaximierung ist und dass wir dies durch egoistisches Konkurrenzverhalten und Wettbewerb erreichen.

Wobei: Nicht alle waren davon ausgegangen. Schon in den Siebzigerjahren hatte es Strömungen in der Psychologie gegeben, die das ganz anders gesehen hatten. Feministische Strömungen. Das schreibt die Psychologin und feministische Ethikerin Carol Gilligan in ihrem kurzen, sehr lesenswerten Essay «Sisterhood is Pleasurable. A Quiet Revolution in Psychology».
Gilligan spricht von einer «patriarchalen Psychologie», in der ständig zwischen Denken und Fühlen, Körper und Geist, Selbst und Beziehung, Kultur und Natur, Mann und Frau unterschieden wird – und von einer feministischen Herangehensweise, die eher von einer Verbundenheit ausgeht, in der Beziehungen nicht in Hierarchien, sondern in Netzwerken gedacht werden. In breiten psychologischen Kreisen setzte sich diese Erkenntnis, so Gilligan, erst durch, als man anfing, in der Forschung das Verhalten von Müttern und Mädchen zu untersuchen.
Wie in der Studie von 2002.
Was lernen wir daraus? Zweierlei. Erstens sollten wir Kinder in Zusammenarbeit schulen. Zweitens sollte man öfter auf Frauen hören.

Vertrauen als wichtigste Voraussetzung der Psychotherapie

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Respekt ist der wichtigste Faktor in einer Beziehung (auch in der therapeutischen!) – und Vertrauen

… because without it, you will be building on sand.
Ohne Respekt kein Vertrauen und ohne Vertrauen kein Gefühl von Sicherheit. Der Rest der Welt ist schon respektlos genug — ständig! Wir brauchen einen Ort, wo Respekt eine Grundeinstellung ist und wo wir ihn einfordern können.

Vertrauen in einer Paarbeziehung hängt besonders davon ab, was man sich selbst zutraut.

Vertrauen in die Wissenschaft am Beispiel des Post-Vac-Syndroms

Prof. Dr. med. Bernhard Schieffer bietet am Universitätsklinikum Marburg mit einer Spezialsprechstunde eine der wenigen Anlaufstellen für Menschen in Deutschland mit dem Verdacht auf ein Post-Vac-Syndrom an. Viele Betroffene, die zu ihm kämen, seien schon seit anderthalb Jahren auf der Suche nach Hilfe, berichtet er. Aber auch er tut sich mit dem Nachweis eines Impfschadens schwer: Erst nachdem alle anderen möglichen Ursachen ausgeschlossen sind, stellt er die Diagnose. »Gerade im Verhältnis zu den Post-Covid-Patienten ist das sehr selten«, sagt er. Trotzdem fordert Schieffer, »endlich anzufangen, das Problem und die Menschen ernst zu nehmen«.
(…)

Auch wenn Post-Vac so selten ist, dass es in keiner Statistik auftaucht, heisst das nicht, dass es das Syndrom nicht gibt.

Wichtig ist aber noch etwas anderes beim Umgang mit dem Thema. Der Erfolg von Impfprogrammen habe immer mit Vertrauen zu tun, sagt der Immunologe Carsten Watzl. »Da sollten wir bloss nicht den Eindruck erwecken, dass da irgendwas vertuscht oder nicht genug getan würde.« Tatsächlich nimmt das Paul-Ehrlich-Institut (PEI) Meldungen zu Post-Vac-Symptomen nach wie vor ernst. Und es wird intensiv zu dem Thema geforscht. So schliesst etwa die Immunologin Akiko Iwasaki von der amerikanischen Yale University inzwischen auch Post-Vac-Betroffene in eine Studie zu Long Covid ein, »LISTEN« heisst die Untersuchung, »Listen to Immune, Symptom and Treatment Experiences Now«.

Zuhören schafft Vertrauen. Und das wird noch gebraucht werden – spätestens bei der nächsten Impfung.
(DIE ZEIT, 29/2023)

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Vertrauen in ein gutes Ende

Das sogenannte Stockdale-Paradox (Stockdale sass 7 Jahre in der Gefangenschaft des Vietcongs):
Wer (zu) optimistisch ist, wird enttäuscht, wer (zu) pessimistisch ist, wird aufgeben. Der Trick des Über-lebens liegt darin, immer zu glauben, dass alles ein gutes Ende haben wird, aber zugleich die Wirklichkeit in all ihrer Brutalität zu akzeptieren. Dies auch während einer massiven Krankheit.
Weiterlesen über die Philosophie, die dazu passt: den Stoizismus >>>

Vertrauen in sich selbst – Selbstakzeptanz

Die Autorin dieser Arbeit will in 3 Monaten ihre Persönlichkeit ändern und geht dabei wirklich in die Tiefe, spricht mit Expert*innen und schaut, was die Forschung zu diesem Thema hergibt. Und kommt zu zwei vielleicht nicht allzu überraschenden, aber fundierten Ergebnissen: Erstens, wenn man ernsthaft versucht, seine Persönlichkeit zu verändern, lernt man sich selbst besser kennen – und kann letztlich Selbstakzeptanz lernen. Zweitens, Veränderung ist möglich – allerdings nur in kleinen Schritten und vielleicht auch insgesamt nicht in grossem Masse, was die eigene Persönlichkeit betrifft. Verhaltensänderungen sind immer möglich. Genau das ist der Fehler, den Menschen machen, die auf die ganz grossen Veränderungen hoffen und dann enttäuscht werden. Und natürlich auch darauf, dass man sich die Persönlichkeitsmerkmale zulegt, die Erfolg versprechen – Extravertiertheit und Gründlichkeit etwa.

„Diese Art von bescheidener Verbesserung, so wurde mir klar, ist das Ziel von so viel Selbsthilfematerial. Stundenlanges Meditieren pro Tag machte Harris nur 10 Prozent glücklicher. Mein Therapeut schlägt mir immer wieder vor, wie ich „von einer 10 auf eine 9 bei Angstzuständen kommen kann“. Einige Antidepressiva bewirken, dass sich die Menschen nur geringfügig weniger depressiv fühlen, obwohl sie die Medikamente jahrelang einnehmen.“

„Vielleicht liegt die eigentliche Schwäche des Vorschlags „Ändern Sie Ihre Persönlichkeit“ darin, dass er impliziert, dass eine schrittweise Veränderung keine echte Veränderung ist. Aber ein wenig anders zu sein, bedeutet immer noch anders zu sein – derselbe Mensch, nur mit einer besseren Rüstung.“

„Der verstorbene Psychologe Carl Rogers schrieb einmal: „Wenn ich mich selbst so akzeptiere, wie ich bin, dann kann ich mich ändern“, und das ist ungefähr der Punkt, an dem ich gelandet bin. Vielleicht bin ich nur eine ängstliche kleine Introvertierte, die sich bemüht, weniger ängstlich zu sein. Ich kann lernen zu meditieren; ich kann mit Fremden reden; ich kann die Maus sein, die durch Mouseville tobt, auch wenn ich nie das Alphatier werde. Ich habe gelernt, die Rolle eines ruhigen, extrovertierten Softies zu spielen, und dabei habe ich mich selbst kennengelernt.“
(Zitate aus Piqd, 11.09.23. )

Verbindung schafft Vertrauen

Mit Vertrauen und all seinen Facetten verbindet man sich und fühlt sich auch in grösseren Menschengruppen zu Hause (z.B. im eigenen Staat). Der Erfolg von ärztlichen und psychotherapeutischen Therapien steigt. Man fühlt alles als stimmig und kohärent.
Dagegen schafft Misstrauen Spaltungen in mir und zu Mitmenschen. Leben in dieser Dualität von „Gut und Böse“ heisst Leben in einer ewigen Disharmonie, was auch der Gesundheit sehr abträglich ist. Weiterlesen >>>

Selbsterforschungsübung zum Vertrauen

Um Vertrauen zugänglich und erfahrbar zu machen, ist es hilfreich, Deine persönlichen Überzeugungen und Prägungen bezüglich Vertrauen zu erforschen.
Forschungsfragen, die weiter führen:
1) Was ist gut daran, nicht zu vertrauen?
2) Was ist gut daran, meinen eigenen Wahrnehmungen, Gefühlen, meinem Erleben nicht zu vertrauen?
3) Wie mische ich mich in mein Erleben, in meine Gefühle, Wahrnehmungen ein? (Du kritisierst Dich vielleicht dafür oder Du versuchst, Dich zu manipulieren: „Es ist besser zu verzeihen, also so sauer oder so vorwurfsvoll zu sein“ oder „Wie kann man immer so negativ sein, wie ich…?!“)
4) Wie erlebe ich Vertrauen?Im Körper, in meinem Erleben, im Kontakt mit Anderen?
(Quelle: Josef Rabenhauer, Gabriele Michel, Sich selbst erforschen, Arbor, 2013)

Weiterlesen >>> Nächstenliebe und Fremdenhass oder Fremdenliebe? Vertrauen vs. Misstrauen? Kittung vs. Spaltung? Frieden vs. Krieg?

Quellen:
Goethe-Institut

DIE ZEIT
The Atlantic, 03/22, I gave myself three months to change my personality by Olga Khazan

Foto von Marek Piwnicki auf Unsplash

Letzte Aktualisierung von Dr. med. Thomas Walser:
11. Januar 2024