Chronische Entzündungen als zentraler Motor vieler Krankheiten und der Fatigue

Chronische Müdigkeit – die Fatigue

Leonardo da Vinci litt grosse Teile seines Lebens an Schlaffheit und Antriebslosigkeit. An schöpferischer und rastloser Motivation schien es ihm nicht zu fehlen. In einem Brief an den Herzog von Mailand schrieb er 1480, er könne mobile Brücken bauen, alle Arten von Kanonen herstellen und auch Skulpturen aus Ton, Bronze sowie Marmor erschaffen. (Quelle).

Allermeist nicht körperlich…

Zu viel Sport, Konflikte, Depression… – in den allermeisten Fällen ist Müdigkeit nicht auf eine körperliche Erkrankung zurückzuführen…

Zuerst mal der Weltschmerz…

„Müde. Alle sind ständig müde, und die Müdigkeit nimmt immer neue Formen an: Es gibt die »Ukraine-Müdigkeit« (nicht schon wieder Waffenlieferungsdebatten), die »Klimamüdigkeit« (ist doch eh alles zu spät), die »Mitleidsmüdigkeit« (nach den Opfern Putins jetzt auch noch die im Nahen Osten). Die »Demokratiemüdigkeit« hat ohnehin Dauerkonjunktur (weil Aushandeln anstrengender ist als blindlings folgen). Und wer diesen Begriffen nicht in den Medien begegnet, weil er nichts hört, sieht, liest? Der ist nachrichtenmüde. Das Zeitalter der Polykrise ist auch eines der Polymüdigkeit, der Polyerschöpfung.“
(Aufwachen von A. Agarwala und  M. Probst aus DIE ZEIT, 08/2024)

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…und unser Immunsystem!

Hinter solch permanenter Energielosigkeit könnte nicht etwa ein Mangel an Wille, Ideen oder Interesse stecken – sondern: unser Immunsystem!
Dies berichten Forscher um Michael Treadway von der Emory University. Sie konzentrierten sich auf die Auswirkungen von leichten, aber chronischen Entzündungsprozessen. Solche treten beispielsweise bei anhaltendem Stress, bei chronischen Schlafstörungen, Chronische Schmerzkrankheit, Übergewicht, Metabolischem Syndrom und Dysbiose, einem Ungleichgewicht der Darmflora auf. Aber natürlich auch bei Entgleisungen des Immunsystems nach akuten Infektionen, wie Long-Covid nach Covid-19 oder ME/CFS (Chronic-Fatique-Syndrom)… Es sind eigentliche „Schwellbrände“ unseres Körpers (und Seele?).
Dies auch bei Hypertonie oder Arterienverkalkung:

Entzündungsneigung als zentraler Mechanismus

In den vergangenen Jahren hat die Medizin erkannt, dass viele Erkrankungen eine mehr oder weniger ausgeprägte Entzündungskomponente haben. Das gilt selbst für Krankheiten wie Atherosklerose, Darmkrebs oder neurologische Erkrankungen. Die Gerontologie betrachtet chronische Entzündungen inzwischen als zentralen Mechanismus des Alterns. Dieser Zusammenhang wird als Inflammaging bezeichnet. Deswegen ist eine antientzündliche Ernährung so wichtig. 

Bekannt ist, dass im Rahmen des Bluthochdrucks in den Blutgefässen des Körpers eine Entzündungsreaktion auftritt, so dass der Schlüssel einer erfolgreichen Behandlung des Bluthochdrucks möglicherweise in der Abschwächung dieser Entzündungsreaktion liegt. „Seit einiger Zeit geht man davon aus, dass auch die durch Bluthochdruck geförderte Gefässverkalkung (Atherosklerose) nichts anderes als eine chronisch voranschreitende Entzündung des Gefässbettes ist.”(Quelle: Uni Mainz)

aus der Sonntagszeitung, 08.08.21

Pathologische Aktivierung des Immunsystems

Die Entzündungsparameter im Blut (CRP, Interleukin-5, Interleukin-1 beta (IL-1 beta), Kortisol) sind zum Beispiel bei Patienten mit einem Metabolischen Syndrom erhöht. Es ist bekannt, dass Fettgewebe Entzündungsprozesse begünstigen kann. Die Theorie: Wenn Fettpolster zu schnell anwachsen, werden sie nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt (Hypoxie) und rufen die Fresszellen (Makrophagen) des Körpers auf den Plan. Das Risiko für chronische Entzündungen steigt.
Selbst der Anblick allein von Süssem kann bei einem Übergewichtigen ein Entzündung auslösen! In Erwartung eines süssen Teilchens schnellt der Insulinspiegel schon vor dem ersten Biss in die Höhe und sorgt so für einen geschmeidigen Abtransport der Kohlenhydrate nach der Mahlzeit.
Der Blick aufs Essen aktiviert im Gehirn offenbar bestimmte Immunzellen, die sogenannte Mikroglia. Diese Zellen schütten dann einen Entzündungsfaktor namens Interleukin-1 beta (IL-1 beta) aus. Normalerweise ist dieser Faktor an der Abwehr von Krankheitserregern beteiligt, im Verdauungsfall aber stimuliert IL-1 beta über einen bestimmten Nerv die Ausschüttung von Insulin. Mit Entzündungen im eigentlichen Sinne haben all diese Vorgänge nichts zu tun.
Nun gibt es aber den Verdacht, dass ein chronisch erhöhter Blutspiegel des Entzündungsfaktors IL-1 beta bei übergewichtigen Menschen Diabetes auslösen könnte.
Diese Gesamtentzündung wird heute als mitverantwortliche Ursache der Insulinresistenz, des Fehlens von Insulinsekretion bei Diabetes und auch der Arteriosklerose, sowie Krebs gesehen.
Bei einem gesunden Menschen funktioniert IL-1 beta als ganz normale Verdauungshilfe, ein nur etwa zehn Minuten andauernder Prozess: Der Kopf stupst die Bauchspeicheldrüse gleichsam nur an. Bei stark übergewichtigen Menschen aber ist die IL-1-beta-Produktion überschiessend und andauernd wie bei einer chronischen Entzündung.
Dieser Zusammenhang von Immunsystem und Stoffwechsel (auch Immuno-Metabolismus genannt) beschreibt Jacques Philippe eindrücklich im Schweiz Med Forum 2018 (aber auch die Ernüchterung einer antientzündlichen, medikamentösen Therapie dagegen).

Auch wenig Sinn im eigenen Leben zu sehen, erhöht nach neueren Studien stets (wie beim Dauerstress) etwas den Kortisolspiegel im Blut, was eine permanente Schwächung des Immunsystems nach sich zieht – und deshalb nachgewiesenermassen eine Erhöhung der Entzündungsneigung: walserblog.ch/2021/07/04/sinn-im-leben/!

Auch der Darmflora wird eine grosse Rolle zugesprochen. Die Darmwand ist bei Patienten mit Übergewicht und Diabetes weniger dicht: dadurch können bakterielle Wandprodukte, sogenannte Lipopolysaccharide, sie besser durchdringen und Entzündungen in verschiedenen Geweben verstärken. Die Zusammensetzung der Darmflora scheint dabei eine wesentliche Rolle zu spielen! Mehr zum Diabetes als Entzündung!

Aufhorchen lässt, dass neuste Studien zeigen, dass sich Mikroplastik aus unserer Umwelt in vielen Organen unseres Körpers ablagern und Entzündungen hervorrufen können. So fand man in Blutgefäss-Plaques diese Kunststoffteilchen, was auch zu Arterienverkalkung und Herzinfarkt, resp. Hirnschlag führte! >>>Weiterlesen>>>

Schwere Verläufe bei Covid-19

Ob ähnliche Prozesse bei schweren Verläufen bei Covid-19 eine Rolle spielen, wird nun vermutet. Deshalb wirken hier auch Medikamente, die das überschiessende Immunsystem, den „Zytokinsturm“ bremsen, wie Dexamethason (ein potentes Kortison) oder auch die Pestwurz (Tesalin).
Weiterlesen über ME/CFS nach Covid-19 >>>

Dopamin durch Entzündung gehemmt

Die Wissenschaftler haben vorliegende Studien zum Einfluss des Immunsystems auf die Dopaminausschüttung ausgewertet: „Can’t or Won’t? Immunometabolic Constraints on Dopaminergic Drive“.
Dopamin, ein Hauptakteur im Belohnungssystem des Gehirns, spielt eine zentrale Rolle für unsere Motivation. Sie fanden, dass unsere Aufwandsbereitschaft infolge von Entzündungsprozessen abnimmt.

Ihr Resümee: Entzündungen führen dazu, dass Botenstoffe (Zytokine) ausgeschüttet werden, die im Gehirn die Ausschüttung von Dopamin hemmen. Dadurch sinke unsere Bereitschaft, sowohl körperliche als auch geistige Mühe aufzuwenden. Diese Studie erweitert das Verständnis von Motivationsmangel bei körperlichen Erkrankungen, aber auch bei Störungen wie Depressionen.

Bei akuter Entzündung ist Müdigkeit Zeichen einer guten Immunantwort

Die motivationshemmende Funktion des Immunsystems ist eine im Prinzip hilfreiche Erfindung der Evolution. Damit ist sichergestellt worden, dass sich ein Mensch nicht überanstrengt, wenn er sich einen Infekt eingefangen hat. Denn die Genesung erfordert viel Energie: Bei Infektionen oder auch bei grossen Wunden kann der Zuckerstoffwechsel des Immunsystems um bis zu 60 Prozent steigen – und diese Energie muss anderswo abgezogen werden. Wir werden dann zu Recht träge.
Auch bei der Neuroinflammation tritt eine grosse Müdigkeit (als Beispiel während einer Grippe) akut als Zeichen einer guten Immunantwort auf.

Differentialdiagnose der Chronischen Müdigkeit oder Fatigue

Fortbildung USZ, 19.03.2024

Therapieansätze

Diese habe ich in meinem Blogbeitrag über die Neuroinflammation bereits besprochen. Sie können auch bei der Chronischen Müdigkeit so übernommen werden. Es geht häufig um ein eigentliches Herunterfahren unseres Organismus, Stoffwechsels,… – um einen Reset mit einer Erholungsphase

  • Ernährung entzündungshemmend: mediterran; auch vegetarisch – hochwertige pflanzliche Öle (Oliven-, Lein- und Rapsöl), auch fermentierte Milchprodukte (Joghurt, Käse) – durch bessere Darmflora!;
    Kurzfasten, wie 16:8!
    Viel Salz führt nicht nur zu einem Blutdruckanstieg, sondern auch zu einer Entzündungsantwort (Stimulation proinflammatorischer TH17-Zellen). Durch Salz wird der Lactobacillus murinus in unserer Darmflora gehemmt. Diese Darmbakterien hemmen aber die Entwicklung dieser TH17-Zellen. Deshalb ist wenig Salz auch gut für unser Immunsystem.
    (Nature.2017;551:585-9)
    Kein Trinkwasser aus Plastikflaschen & wenig aus Plastikverpackungen (Fertigprodukte)!
  • Mehr Bewegung – mässig und regelmässig. Hier muss man anmerken, dass es auch viele Menschen gibt, denen zuviel Aktivität jeglicher Art (z.B. auch in einer REHA mit den vielen Therapien…) eher schadet, also noch mehr erschöpft. Diese benötigen dann eher Folgendes:
  • Mehr Beruhigung, Entspannung, Innerer Frieden…
    Meditieren… Sie sind dadurch weniger gestresst und gereizt.
  • Soziale Isolation vermeiden… (Metastudie)
  • Lichttherapie

Hilft gegen diese Müdigkeit Eisen?

Bei chronischen Entzündungen entsteht manchmal eine Anämie – aber häufig auch eine Eisenüberladung. Hier wäre eine Therapie mit Eisen fatal!

Was hilft nun diagnostisch abzuklären, ob man Eisen benötigt?
Ein erhöhtes C-reaktives Protein (CRP) im Blut ist ein Zeichen, dass im Körper ein Entzündungsprozess stattfindet. In diesem Fall ist der Ferritin-Wert trügerisch, da er normal oder hoch sein kann, obwohl dem Körper zu wenig Eisen für den Stoffwechsel zur Verfügung steht. Dann liefert die Transferrinsättigung einen zuverlässigeren Hinweis auf die Verfügbarkeit von Eisen.
Die Transferrinsättigung oder TSAT im Blut zeigt an, wie sehr diese Transportproteine mit Eisen beladen sind. Eine zu niedrige Transferrinsättigung bedeutet, dass dem Körper zu wenig Eisen zur Verfügung steht. Dies kann bei erhöhten Entzündungswerten auch dann der Fall sein, wenn die Eisenspeicher gut gefüllt sind. Die Transferrinsättigung ist daher ein guter Laborwert um herauszufinden, ob ein Eisenmangel vorliegt, auch wenn entzündliche Prozesse im Körper vor sich gehen. Die höchste Aussagekraft hat die Erhebung der Transferrinsättigung, wenn das Blut für die Laboruntersuchung morgens nüchtern abgenommen wird.

Über 70jährig sind ein Drittel aller Anämien durch eine chronische Entzündung verursacht (8% davon durch chronische Niereninsuffizienz). Im hohen Alter (>80j) erhöht sich der pro-inflammatorische Zustand unserer Zellen noch mit Zunahme der entzündlichen Zytokine.

Es hilft hier nichts, Eisen zu geben (Tabletten oder Infusionen) – man muss die ursächliche Krankheit beheben!

Lichttherapie kann chronische Erschöpfung lindern

Krankheiten wie Rheuma, Krebs, Multiple Sklerose (MS), aber auch Long Covid sind oft mit einer chronischen Müdigkeit verbunden. Gegen diese «Fatigue» kann eine Lichttherapie helfen, haben Forschende in Österreich nachgewiesen. Ein Team um den Neurologen Stefan Seidel von der Medizinischen Universität Wien und dem Universitätsklinikum AKH Wien nahm sich für seine Untersuchung eine Gruppe von MS-Patientinnen und -patienten vor. Dies aus gutem Grund: Bei kaum einer anderen Krankheit ist die Wahrscheinlichkeit so gross, dass die Betroffenen begleitend auch an Fatigue leiden: Studien gehen von 75 bis 99 Prozent aus. 
Schliesslich wurden die Studienteilnehmenden in zwei Gruppen aufgeteilt: Die eine Gruppe benutzte eine Tageslichtlampe mit einer Helligkeit von 10’000 Lux, die andere eine baugleiche Lampe mit rotem Licht und lediglich 300 Lux.

Während das schwache, rote Licht keinerlei Wirkung zeigte, konnten die Forschenden bei der anderen Gruppe bereits nach 14 Tagen messbare Erfolge feststellen: Die Teilnehmenden, die täglich eine halbe Stunde ihre 10’000-Lux-Tageslichtlampe benutzten, wiesen schon nach dieser kurzen Zeitspanne eine verbesserte körperliche und geistige Leistungsfähigkeit auf. Auch litten sie weniger unter Tagesschläfrigkeit als die Kontrollgruppe mit dem schwachen Rotlicht. «Die Erkenntnisse aus unserer Studie stellen einen vielversprechenden nicht medikamentösen Therapieansatz dar», sagt Studienleiter Stefan Seidel.

Dass die Lichttherapie nun auch gegen die Fatigue helfen kann, überrascht nicht: Auch das künstliche Licht einer Lampe wirkt dem schläfrig machenden Prozess entgegen: Wenn genug helles Licht auf die Netzhaut trifft, hemmt es die Melatoninproduktion und macht dadurch aktiver, verbessert die Stimmung und auch die Hirnleistung. Eine korrekt durchgeführte Lichttherapie hilft ausserdem, die innere Uhr, also den Schlaf-Wach-Rhythmus, einzustellen. Das wiederum wirkt sich positiv auf die Schlafqualität aus.

Zum Schluss noch ein Tipp ganz ohne Kostenfolgen: Wer nur leicht unter dem «Winterblues» oder der Fatigue leidet, kann es auch mit einem täglichen Morgenspaziergang von mindestens einer Stunde versuchen. Der hat einen ähnlichen Effekt wie die Lichttherapie.


Letzte Aktualisierung von Dr. med. Thomas Walser:
21. März 2024