Lasse ich das Internet/Social Media mich beherrschen – oder dient es mir?

Kannst Du dich noch konzentrieren? Schaffst Du es, diesen Artikel zu lesen, ohne auf dem Smartphone zwischendurch eine Nachricht zu texten? Ohne kurz mal Instagram und Tiktok zu checken? Dieser Blogbeitrag verlangt rund zehn Minuten konzentrierter Lesezeit.
Fehlende Konzentration ist ein gesellschaftliches Problem. Die Gründe dafür sind nicht nur Smartphones und digitales Multitasking. Sondern etwa auch unsere Ernährung und chronischer Schlafmangel.

Falls das Internet, das Essen, die Nacht dich beherrscht, kann dies in zwei Richtungen gehen:

  1. Es kann bei Menschen, die schon müde und ruhig sind, noch mehr Energie aussaugen und erschöpfen, ja „depressiv“ machen – oder…
  2. Es kann bei Menschen, deren Feuer sowieso schon mächtig ist und die schon hochtourig laufen, das Herz und die Emotionen massiv stören…

1.) Dein Smartphone macht dich depressiv

Generation „Kopf unten“ aufgepasst. Neben dem enormen Energieverlust durch das Internet, welcher zur Erschöpfung führt, spielt noch deine Haltung eine Rolle: Wer viel textet und surft, lässt auch viel den Kopf hängen. Buchstäblich.

Photo by Creative Christians on Unsplash

Wir bekommen nicht nur bei Selbstwertproblemen und mieser Stimmung eine schlechte Körperhaltung, sondern auch anders herum – eine schlechte Körperhaltung krümmt unseren Geist und dämpft unser Selbstwertgefühl. Nichts anderes passiert, während wir aufs Handy schauen: Kopf runter, Schultern runter.
Nimm jemandem, der so da steht, das Smartphone aus der Hand und er sieht aus, als wäre er massiv deprimiert. Dem Gehirn reicht diese Haltung als Signal und zieht seinen Schluss daraus. Diese Körperhaltung ruiniert neben der Laune auch unser Selbstvertrauen und unsere Leistungsfähigkeit in Tests sowie die generelle Produktivität, ausserdem fällt es uns so schlechter, uns an gute Dinge zu erinnern, während sich die schlechten nur so aufdrängen.
(Fakten zu Smartphone und Depression hat hier Manfred Spitzer von der Uniklinik Ulm zusammengetragen.)

Ich sehe in meiner Praxis eine starke Zunahme von sog. “Witwenhöckern” (Ihunch, da dies früher nur bei 70+Frauen vorkam) schon bei sehr jungen Menschen. Die Ursache ist offensichtlich: auf der Strasse, in der Strassenbahn und überall begegnen wir dieser neuen Haltung, die durch das allgegenwärtige Starren ins Smartphone bedingt ist! Weiterlesen über Rundrücken >

Versuch dein Leben anzuschauen und zu forschen, weshalb dein Gemüt in deiner Welt so müde geworden ist:

  • Ist dein Kaffeekonsum etwas hoch? Reduziere auf 2-3 Tassen täglich – oder lass ihn gleich weg, falls du sowieso schon wenig trinkst. Grüntee ist hier viel neutraler und unschädlich.
  • Sonstige Drogen: vermeide vor allem diejenigen, die Dich noch flacher, breiter machen: Alkohol, Cannabis, Opiate…
  • Alkohol? reduziere auf 2 bis 4 Gläser pro Woche und vermeide Exzesse.
  • Zigaretten auf Null!
  • Entfache dein Feuer wieder: Beweg Dich, flaniere in Ruhe, im Wald, im Park, dem Wasser nach – oder jogge – ohne Smartphone!
  • Umgebe Dich mit feurigen Menschen!
  • Iss viel Warmes, wenig Milch und Milchprodukte, wenig Zucker und Honig, kein Hefebrot, wenig Sojaprodukte,…
  • Und das Allerwichtigste: Digital-Detox (siehe gleich unten)!

2.) Das Smartphone stört dein Herz und deine Emotionen

Zu viel Feuer in den Emotionen zeigt sich im Alltag mit kleinen Ärgernissen und Empörungen, mit schnellem Aufschäumen und mit vielem Urteilen, als Streithahn und in Schlafstörungen…

Zu viel Feuer und Wildheit des Herzens mündet in Rhythmusstörungen, meist Extrasystolen (Herzpoltern). Lass mal bei der Hausärztin ein Ruhe-EKG machen. Falls es sogenannte supraventrikuläre sind, kannst Du vorerst etwas aufatmen – bei ventrikulären oder auch beim Vorhofflimmern muss die Ärztin aber etwas genauer abklären.
Auch ein erhöhter Blutdruck (Hypertonie) kann Ausdruck von zu viel Feuer/Wildheit sein.

Versuch dein Leben anzuschauen und zu forschen, weshalb dein Herz in deiner Welt so wild geworden ist:

  • Ist dein Kaffeekonsum etwas hoch? Reduziere auf 2-3 Tassen täglich – oder lass ihn gleich weg, falls du sowieso schon wenig trinkst. Grüntee ist hier viel neutraler und unschädlich.
  • Sonstige Drogen: vermeide vor allem diejenigen, die Dich antreiben und noch wilder machen: Kokain, Extasy, Speed…
  • Alkohol? reduziere auf 2 bis 4 Gläser pro Woche und vermeide Exzesse.
  • Zigaretten auf Null!
  • Leite dein Feuer nach unten in die Beine und Füsse ab: Beweg Dich, flaniere in Ruhe, im Wald, im Park, dem Wasser nach – ohne Smartphone!
  • Umgebe Dich mit erdigen Menschen!
  • Iss weniger Grillfleisch – und weniger scharf Gewürztes und Gesalzenes!
  • Und das Allerwichtigste: Digital-Detox!

Social Media & Fast Food & Schlafmangel: „Digital-Detox“

Beginne noch heute mit deinem Digital Detox – und mache das Internet wieder zu deinem Diener, welches DU beherrschst:

  • Stelle wirklich alle Pushes (auch von den Nachrichten, aber vor allem aus den Social Medias – und von allen Apps) komplett ab!
  • Sieh all deine Apps auf deinem Smartphone genau durch und unterscheide ehrlich zwischen solchen, die dir dienen, dich nähren – und solchen, von denen DU beherrscht wirst und damit deine Energie absaugen!
  • Kaufe ein zweites Gerät und dorthin kommen alle die Apps, die dir Energie absaugen – und die du nicht sowieso gleich ganz gelöscht hast!
    Lösche diese saugenden Apps alle auf dem ersten Gerät!
  • Dieses zweite Gerät kommt nun in eine verschlossene Box, die du nur eine gewisse Zeit pro Tag oder pro Woche raus nimmst – und nachher verschwindet es sofort wieder dorthin!
  • und…
    hebe deinen Blick wieder! Schau entspannt zum Horizont, fixiere nichts, geniesse die Welt um dich. Schau wieder in Sonnenuntergänge. Bleib stehen, lass dich von diesem Anblick fesseln. Komm zur Ruhe!
  • und…
    beginne zu meditieren!
  • Mit Seneca das hektische Surfen beenden:
    Unsere Smartphones sind Gegenstände, die für alles Mögliche genutzt werden können, weshalb wir sie auch unentwegt für alles Mögliche nutzen. Aber egal, ob wir es zum Arbeiten, zum Kommunizieren, für die Suche nach Informationen oder zur Unterhaltung verwenden, wir tun es meist auf eine hektische Art und Weise. Der römische Stoiker Seneca (4 v. Chr.–65 n. Chr.) unterschied bereits zwischen den „Occupati“, vielbeschäftigte Menschen, die in ihrer Zerstreuung rastlos sind, und den „Otiosi“ (von lateinisch „otium“, Musse). Den Otiosi gelingt es, die Kontrolle über ihr Leben trotz grosser Geschäftigkeit zu behalten und sich vom Gefühl der Dringlichkeit nicht zu sehr irritieren zu lassen. In seinem Werkt Von der Kürze des Lebens schreibt Seneca: „Du wirst Aufgaben finden, grösser als alle Leistungen, die du bisher in strenger Pflichttreue vollzogen hast, Aufgaben, an deren Lösung du in sorgenloser Ruhe arbeiten kannst.“ Von der Zeit Senecas in die Zeit der leuchtenden Bildschirme übertragen, kann der Ratschlag also lauten: Erledige nur das Nötigste auf dem Smartphone. Sei ein Otiosi und kein Occupati, der geschäftig ist, nur um geschäftig zu sein. Wenn das Handy im Flugmodus oder sogar dem Raum nebenan bleibt, lenkt es uns vielleicht weniger von den wirklich wichtigen Aufgaben ab.
  • Sich mit Montaigne Zeit nehmen, um das auf dem Smartphone Gelernte zu verdauen:
    Wer ein Smartphone in der Hand hält, hat Zugang zu praktisch unendlichen Mengen an Information. Doch wie kann zumindest ein Teil davon zu hilfreichem Wissen werden? Indem man auch Zeit dafür aufwendet, das Gelernte zu verinnerlichen und es im Anschluss auf das eigene Leben anzuwenden. So zumindest könnte ein Ratschlag von Michel de Montaigne (1533–1592) lauten. Der Autor und Denker lebte stets umgeben von Büchern – der bevorzugten Informationsquelle seiner Tage. Doch fragte auch er sich schon in seinen 1580 erschienene Essais, wie er eine Maxime von Plutarch oder ein Zitat von Sokrates in seinem Leben umsetzen kann. Die Antwort: das schrittweise Übergehen von der Information zur Introspektion. Denn „Das Grösste auf der Welt ist, zu wissen, dass man sich selbst gehört“, schreibt er, was voraussetzt, äussere Impulse souverän aufnehmen und sie zu etwas Eigenem machen zu können. Montaignes Ratschlag, um unsere Handysucht zu lindern? Schalten Sie es nach jedem Gebrauch aus, um seine Wirkung auf Ihr Innenleben zu studieren. Verdauen Sie, was Sie gelernt haben und machen Sie sich dieses Wissen zu eigen. Schalten Sie es erst danach wieder ein.

Das Smartphone macht uns unkonzentriert und dumm

Die Fähigkeit, uns zu konzentrieren, nimmt dramatisch ab. Und der Verlust der Konzentration ist nicht einfach ein persönliches Problem jedes Einzelnen – Nichts, was man mit der Diagnose ADHS ad acta legen kann, sondern eine gesellschaftliche Krise, welche selbst die Funktionsfähigkeit von Öffentlichkeit und Demokratie infrage stellt.
Schliesslich: Wir verlieren nicht einfach unsere Konzentrationsfähigkeit. In Tat und Wahrheit wird sie uns gestohlen.

Bisher hast Du etwa 3 bis 4 Minuten Aufmerksamkeit (am Stück?) geschafft…

Gemäss Johann Hari, Autor des in Englisch erschienenen Bestsellers «Stolen Focus. Why You Can’t Pay Attention» ist der Verlust von Aufmerksamkeit einer der grössten Beutezüge in der Geschichte der Menschheit überhaupt. Jedenfalls legt der von den angelsächsischen Medien hochgelobte Experte eindrückliche Belege vor, die seine These untermauern.
(Michael Marti: Was uns dumm macht, Sonntagszeitung, 4.6.22)

Illustration: @ Christine Rösch

Was können wir noch leisten?

  • Durchschnittlich drei Minuten noch verbringen amerikanische Arbeitnehmerinnen  und Arbeitnehmer ungestört  und konzentriert mit dem Erledigen einer Arbeit.
  • Bei US-Studierenden beträgt  derselbe Wert 65 Sekunden.
  • Im Jahr 2017 lasen die Durchschnittsamerikanerin und der  Durchschnittsamerikaner  noch 17 Minuten pro Tag in  einem Buch. Fast sechs Stunden täglich aber nutzten sie  ihr Smartphone.
  • Rund 2000-mal am Tag (das  heisst binnen 16 Stunden)  schauen Amerikanerinnen  und Amerikaner dabei im  Schnitt aufs Smartphone.
  • Für eine Studie lösten zwei  Gruppen von Studierenden  intellektuell anspruchsvolle  Aufgaben. Die eine Gruppe  legte das Smartphone weg, die  andere empfing auf ihren  Geräten regelmässig Textnachrichten. Diese zweite  Gruppe der Unkonzentrierten  schloss beim Test um 20 Prozent schlechter ab als die  Gruppe der Fokussierten.
  • Ganze 23 Minuten dauert es,  so die von Hari zitierten Experten, bis man nach einer  Ablenkung wieder vollständig  fokussiert ist.

Zugegeben, Hari ist nicht der Erste, der gegen unendliches Scrollen, zwanghaftes Zappen, pausenloses Texten oder manisches Kommentieren anschreibt. Doch der 44-jährige Sachbuchverfasser stellt das Phänomen der gestohlenen Konzentration kompetent in einen gesamtgesellschaftlichen und historischen Zusammenhang.
Hari legt dabei ein sorgfältig recherchiertes und kurzweilig geschriebenes Buch vor, in dem er vom eigenen Notifications-Overkill, vom eigenen Info-Crash berichtet. Hari flüchtete sich in eine selbst auferlegte dreimonatige Digital-Detox-Kur in einem Strandhaus am Meer. Um sich aus der Knechtschaft seines Smartphones zu befreien, schaffte er sich eine Plastikbox an, in die er jeweils für eine gewisse Zeit das Mobiltelefon wegsperrte. Damit nahm alles seinen Anfang.

Bisher hast Du etwa 5 Minuten Aufmerksamkeit (am Stück?) geschafft…

Auch unsere Ernährung spielt mit

Hari führte für sein Buchprojekt Gespräche mit Dutzenden Expertinnen und Experten aus den verschiedensten Fachbereichen. Seine zwölf Thesen, wie uns die Konzentrationskraft geraubt wird, zielen zwar vorrangig auf Digitalisierung, Smartphone, soziale Netzwerke und Notifications-Tsunamis – aber nicht nur. Etwa wenn Hari aufzeigt, wie die moderne Ernährung mit ihrem Übermass an Kohlenhydraten und Zucker die Aufmerksamkeit beeinträchtigt.

Der Zusammenhang zwischen Konzentrationskrise und Ernährungskrise ist ohnehin eng. So diktierte der renommierte US-Psychologe Joel Nigg, der für seine Forschungen zu Aufmerksamkeitsdefiziten und Hyperaktivitätsstörungen bekannt ist, Buchautor Hari in den Notizblock: «Der kollektive Verlust an Konzentrationsfähigkeit ist wie die Fettleibigkeit eine gesellschaftliche Epidemie.»

Social Media ist digitales Fast Food

Social Media ist digitales Fast Food. Der Tiktok-Feed und der Hamburger verschaffen beide eine «Instant Gratification», eine sofortige Befriedigung, die auf Dauer abhängig machen kann. Ein Fazit von Haris Recherche: Die Social-Media-Industrie und die Techfirmen bewirtschaften unsere Gehirnzellen, die Fast-Food-Branche die Fettzellen. Und beide hacken zur Maximierung ihrer Gewinne das Belohnungssystem unseres Gehirns.

Nachrichten und Pushes sind «Verhaltenskokain» – und stehlen uns wertvolle Lebenszeit

Besonders spannend wird das Buch dann, wenn Hari Insider aus dem Silicon Valley befragt und mit ihnen die Strategien und Tricks bespricht, mit denen Softwareprogramme die Userinnen und User ans Smartphone fesseln. Hari rechnet vor, Google kontrolliere mit seinen Apps und seinem Betriebssystem Android rund 50 Prozent aller auf Smartphones versendeten Notifikationen, Nachrichten und Pushes; «Verhaltenskokain» nennt er diese Meldungen. Sicher ist: Wenn wir auf die Smartphone-Screens starren, dann verdienen diese Firmen Geld; wenn wir nicht hinschauen, nicht. Das Geschäftsmodell heisst Screentime. Und die Menschheit bezahlt in diesem Deal mit ihren Daten – und ihrer Lebenszeit.

In Haris Buch kommt der prominente Softwareentwickler Aza Raskin zu Wort, der Mann, der den «Infinite Scroll» etabliert hat: dasjenige Feature, welches auf Instagram und vielen anderen Social-Media-Apps immer wieder neue, algorithmisch ausgewählte Inhalte in den Feed spült. Raskin gibt sich selbstkritisch, bedauert seine Entwicklung – und betont, wie simpel die Techfirmen ihren Usern wieder mehr Raum für Konzentration geben könnten. Facebook etwa könnte die Zahl der Notifications über Standard-Voreinstellungen tief halten, Instagram einen beschränkten Feed mit einer beschränkten Anzahl Posts zeigen. Die Silicon-Valley-Manager müssten es nur wollen.

Bisher hast Du etwa 7 Minuten Aufmerksamkeit (am Stück?) geschafft…

Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen fehlt der Schlaf

Als einen weiteren Hauptgrund für den kollektiven Verlust an Konzentration nennt Hari die chronische Übermüdung der Gesellschaft. Die Mehrheit der Menschen schläft zu wenig und schlecht: Das ist Gift für die Fokussierfähigkeit. Rund 40 Prozent der Amerikanerinnen und Amerikaner würden weniger als sieben Stunden pro Nacht schlafen; die Werte für europäische Länder sind ähnlich. Seit 1950 nahm in den Industrieländern die durchschnittliche Schlafenszeit pro Nacht um rund eine Stunde ab; bei Kindern und Jugendlichen sogar um knapp eineinhalb Stunden.

Hari scheut auch vor dramatischen Sätzen nicht zurück. «Wir müssen dringend handeln», schreibt er, «weil es vielleicht so ist wie bei der Klimakrise oder der Fettleibigkeit: Je länger wir warten, desto schwieriger wird es, die individuelle und politische Energie zu mobilisieren, mit der wir die Kräfte bekämpfen, die unsere Konzentration stehlen.»

Dabei ist Hari kein blindwütiger Technikstürmer, der das Rad der Zeit in die Epoche vor dem Internet zurückdrehen will. Doch zwingend sei die Neubesinnung auf die Kraft ungeteilter Aufmerksamkeit nur schon deshalb, weil die Menschheit ihre entscheidenden Probleme, etwa die Klimakrise, nicht lösen könne, solange sie sich mindestens 20 Prozent ihrer Gesamtgeisteskraft klauen lasse.

Aufmerksamkeitsvernichter nicht einfach machen lassen

Es sei Zeit für eine Art Volksaufstand, eine «Attention Rebellion», wie Hari es nennt. Er argumentiert, dass die Gesellschaft ihre Aufmerksamkeitskrise politisch und gesellschaftlich anpacken müsse, sonst drohe ein Jahrhundertproblem. Dazu gehören seiner Meinung nach gesetzliche Vorschriften und Regulierungen für die Aufmerksamkeitsvernichter, für Firmen wie Meta oder Google. Dazu gehörten aber ebenso Massnahmen jedes Einzelnen, etwa genug Schlaf, eine gesunde Ernährung. Und dass jede und jeder sich bewusst Zeit nehmen solle für vertieftes Lesen.

So wie all jene unter Ihnen, die in den letzten rund acht Minuten diesen Artikel ohne Unterbruch gelesen haben.

Das Multitasking lässt den IQ sinken

Bis heute gilt Multitasking vielen als eine erstrebenswerte intellektuelle Disziplin – in Tat und Wahrheit aber, so ein weiterer zentraler Punkt in Haris Argumentation, ist Multitasking der Anfang allen Übels. Der menschliche Geist könne nicht zwei Dinge gleichzeitig erledigen, Multitasking bedeute immer: ein rasches Wechseln des Fokus zwischen zwei Aufgaben, also ein „Task Switching“. Bei jedem Wechseln muss sich das Gehirn wieder an die aktuelle Aufgabe erinnern und neu einstellen. Dieser «Umschalteffekt» reduziere die Gehirnleistung, Multitasking, gepaart mit ständiger Ablenkung, führe in Tests zu einem sinkenden IQ.
(Michael Marti: Was uns dumm macht, Sonntagszeitung, 4.6.22)

Infokrieg

In dieses Vakuum der Dummheit tritt nun der „Infokrieger„!
«Flute den Raum mit Scheisse», so erklärte Steve Bannon, Ex-Chefberater von Donald Trump, im Jahr 2018 seine Strategie, um die etablierten Medien zu bekämpfen: Alles in einem Nebel von Wahn­sinn und Lügen versinken lassen, bis nichts mehr wahr und alles möglich ist. Nach diesem Vorbild ist während der Pande­mie auch in Deutschland und in der Schweiz ein neues Medien-Ökosystem entstanden, wo Fakten keine Rolle mehr spielen. Darin tummeln sich Blogger, Telegram-Influencerinnen, Journalisten und ganze Medien­unternehmen. Bei aller Unterschiedlich­keit vereint die Akteure ein gemeinsamer Feind: Ein angeblicher «Mainstream» aus Wissen­schaft, etablierten Medien und «politischer Korrekt­heit».
(Die Republik ist in diese Welt der Info­krieger eingetaucht)

Bisher hast Du etwa 9 Minuten Aufmerksamkeit (am Stück?) geschafft…

Mit dem Mobilen Internet verlieren wir die Fähigkeit zum Alleinsein

Das Zücken des Smartphones  in jeder Pause, in der Langeweile aufkommen könnte, kann in die Isolation führen, weil man die Fähigkeit zum Alleinsein verliert. Erst das Alleinsein ermöglicht es, sich selber zu finden und mit anderen eine Bindung einzugehen. Können wir das nicht, wenden wir uns den anderen zu, um uns nicht ängstigen, ja um uns überhaupt erst lebendig zu fühlen. Die anderen werden zu einer Art Ersatzteillager für das, was uns fehlt. Einer Generation, die Alleinsein als Vereinsamung erfährt, mangelt es an Autonomie. Diese zu entwickeln ist für Heranwachsende aber lebenswichtig. Was wir Langeweile nennen, ist wichtig für unsere Entwicklung. Es ist die Zeit der Imagination, in der man an nichts Bestimmtes denkt, seine Vorstellung wandern lässt. Ich erinnere mich daran, stundenlang in der Natur gesessen zu haben, ohne ein Buch, ohne irgendetwas. Ich habe aufs Wasser geschaut oder in die Berge, vor mich hingeträumt, war einfach Kind. Das menschliche Gehirn braucht die Langeweile – Neurologen sprechen vom “Default Mode Network” und meinen damit einen freischwebenden Leerlaufmodus, in dem Gedanken ziellos umherschweifen können. Es entstehen Denkpausen, in denen das Gehirn Eindrücke verarbeitet, es also gewissermassen geistig verdaut. Die Jungen schätzen ein Kommunikationsmedium, in dem man Verlegenheit und Unbeholfenheit ausblenden kann. Man zieht sich zurück, bevor man abgelehnt wird. Smartphones befriedigen drei Fantasien: dass wir uns immer sofort an jemanden wenden können, dass wir immer angehört werden und dass wir nie allein sind.

Blue Light macht ein „Digital Aging

Das blaue Licht der Bildschirme von Smartphones, Tablets,… liegt im Lichtspektrum gleich neben dem UV-Licht, dringt sehr tief ein und kann eventuell auch unsere Haut schneller altern lassen. Viel wichtiger scheint aber die Störung unseres Biorhythmus durch das Blue Light, was sich in Einschlafstörungen und allgemeinen Rhythmusverlust zeigen kann. Über die so wichtige Rhythmisierung unseres Lebens habe ich hier in meinem Blog geschrieben: Gesund werden heisst häufig: unser Leben „Rhythmisieren“!

Gefährlicher Kortisol-Anstieg

Eine exzessive Handynutzung beeinträchtigt nicht nur den Schlaf, die Beziehung, die Kontaktfähigkeit, das Gedächtnis, die Aufmerksamkeitsspanne, die Kreativität, die Produktivität sowie die Fähigkeiten, Probleme zu lösen und Entscheidungen zu treffen, meine Haltung und Stimmung. Es gibt noch einen weiteren Grund, die Beziehung zu den Geräten zu überdenken.
Indem sie die Spiegel des Stresshormons Kortisol chronisch anheben, bedrohen die Handys nämlich die Gesundheit generell und verkürzen möglicherweise sogar unser Leben!

sonntagszeitung/staendig-unter-strom/

Weiterlesen auf dieser Website:
Beherrscht mich meine Arbeit oder dient sie mir?
Lebe ich eine saugende Beziehung oder nährt sie mich?

…und noch zwei Bücher über die digitale Lenkung von Konsument*innen – und die Angst etwas zu verpassen:
– Christian Montag, Du gehörst uns! Die psychologischen Strategien von Facebook, TikTok, Snapchat & Co – und wie wir uns vor der grossen Manipulation schützen. Lessing, München 2021
– Gerd Gigerenzer, Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen. C.Bertelsmann, München 2021

Quellen:
Johann Hari: «Stolen Focus. Why You Can’t Pay Attention». Bloomsbury, 352 S., ca. 30 Fr., erst ab Oktober 22 auf deutsch erhältlich.
Jonathan Haidt über gesellschaftliche Wirkungen von Social Media
Michael Marti: Was uns dumm macht, Tagesanzeiger, 05.06.2022


Photo by Camilo Jimenez on Unsplash

Letzte Aktualisierung von Dr.med. Thomas Walser:
14. August 2023