Verantwortungsvolle Wissenschaft (vs. „Verschwörungstheorien“, besser: „Mythen“)

Der Ursprung der Wissenschaft liegt im antiken Griechenland. Platons Schüler Aristoteles begründet die erste logisch-empirische Beweislehre, die rationale Grundregeln wissenschaftlichen Arbeitens und die Naturphilosophie als Vorläufer der Naturwissenschaften etabliert. Hinter Wissenschaft steht die Überlegung, wie Menschen zu objektiven, überprüfbaren Erkenntnissen über die Welt gelangen. Kern empirischer Wissenschaft ist, auf Basis von Beobachtungen, Hypothesen aufzustellen, die sich zu einer intersubjektiv prüfbaren Theorie fügen. Gleichzeitig ist für den Fortschritt wesentlich, dass Wissenschaft an sich selbst zweifelt. So zeichnen sich wissenschaftliche Theorien, Karl Popper zufolge, durch ihre Widerlegbarkeit aus, die sie von Verschwörungstheorien klar abgrenzt. „Verschwörungstheorien“ sind also sicher keine „Theorien“, sondern nur „Geschichten“ oder „Mythen“. So besagt Poppers berühmtes Falsifikationsprinzip, dass nur ein schwarzer Schwan ausreicht, um die Hypothese, alle Schwäne seien weiss, zu Fall zu bringen. Am Ende ist Wissenschaft ein von Widersprüchen wesentlich geprägter Diskurs, in dem sich die überzeugendsten Theorien durchsetzen (z.B. durch das Peer-Reviewed-Verfahren: https://de.wikipedia.org/wiki/Peer-Review?).
Nur schon für den mündigen Medienkonsumenten sollte ein Link auf die Studienquelle der jeweiligen Information zur Norm werden.

Unsicherheiten gehören in der Wissenschaft dazu

Forschung lebt davon, Widersprüchliches oder scheinbar Widersprüchliches zu produzieren, Experimente zu wiederholen, Ergebnisse wieder und wieder zu prüfen und zu hinterfragen. Dass zwei Beobachtungen nicht so recht zusammenpassen, ist einem guten Wissenschaftler Antrieb, weiterzuforschen. In der Forschung werden Theorien entworfen und verworfen. Zum (vorläufigen) Schluss gibt es einen wissenschaftlichen Konsens. Dass sich alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer Frage einig sind, ist aber eigentlich nie der Fall. Der eine legt Studien auf eine bestimmte Art und Weise aus, die andere ein wenig anders. Die eine gewichtet einen bestimmten Zweifel stärker, der andere weniger. Und doch schält sich in vielen Fällen so etwas wie ein Konsens heraus. Auch beim neuen Coronavirus.

Alles Wissen, das wir über die Welt haben, ist immer nur ein Modell und kann daher jederzeit durch eine einzige neue Beobachtung umgeworfen werden. Dies aber bedeutet nicht, dass all unser Wissen nur Meinung ist. Nein, Modelle gibt es in sehr unterschiedlichen Reifegraden: von Verschwörungsmythen, die zuerst noch plausibel klingen – aber nur, solange man gleich dem nächsten Video hinterher hechtet –, bis hin zu vielfach aufs Äusserste getestete Theorien, die nach Jahrzehnten immer noch Bestand haben. Und diese letzteren Theorien, die nennen wir dann guten Gewissens nicht mehr Meinung, sondern Fakten. Wenn etwa die Flat Earth Society, die allen Ernstes die These vertritt, die Erde sei eine Scheibe und keine Kugel, irgendwann die Oberhand gewinnen sollte, dann ist dies ein sicheres Indiz dafür, dass der Wahnsinn endgültig über naturwissenschaftlich gewonnene Erkenntnisse gesiegt hat. Die Welt hat sich dann vom rationalen Denken verabschiedet, und Fake-News sind zum Alltag geworden. Anders als die USA ist der Rest der Welt von diesem Szenario noch recht weit entfernt.

Doch schon Einstein soll gesagt haben: »Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche Dummheit, aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.«

Wie viel Unsicherheit und Vorläufigkeit halten wir aus?

Die Frage, wie belastbar wissenschaftliche Erkenntnis ist, ist deswegen nicht zuletzt eine Frage danach, wie wir mit Unsicherheit umgehen: Wie viel Vorläufigkeit halten wir aus? Welches Mass an Ungewissheit? Wie viel Abweichung von dem – angesichts eines neuartigen Virus leider unerfüllbaren – Wunsch nach hundertprozentiger Gewissheit? Wo Menschen nach absoluter Wahrheit streben, liegt auch ein Einfallstor für Verschwörungsgeschichten: Sie bieten, gewissermassen als Ersatz, eine Illusion von Gewissheit feil: in Form von Komplexitätsabwehr und Sündenbock-Narrativen.

Wissenschaftler sind Spezialisten, keine Alleswisser

Forscherinnen müssen auch klarmachen, wenn eine Frage über ihre Expertise hinausgeht. Viele Wissenschaftler praktizieren das gerade, unter anderem Christian Drosten. Der Virologe forscht seit Jahren an Coronaviren und kann grundsätzliche Fragen dazu mühelos beantworten. Gleichzeitig kennt er sich aber auch in angrenzenden Feldern wie der Forschung nach Impfstoffen gut aus. Trotzdem macht Drosten immer wieder transparent, dass er bei diesem und jenem Thema eben kein Fachmann sei. Meinungswechsel sind dabei ein Qualitätsmerkmal. Einen falschen Experten erkennt man nicht daran, dass er seine Einschätzung zu bestimmten Themen ändert. Ganz im Gegenteil: Wenn der Umschwung gut begründet ist, dann macht gerade das die Qualität eines Forschers aus.

»Man kommt in der Wissenschaft nicht weiter, wenn man das Gleiche macht wie viele andere« (Bernhard Schölkopf, Direktor am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme in Tübingen und Professor für Empirische Inferenz an der ETH Zürich, befasst sich mit Informatik und Künstlicher Intelligenz)

Politische Pubertätskrise

Was verbindet Neonazis, Reichsbürgerinnen, Esoterikerinnen, Impfgegner, Naturverehrer, Grundrechtsbewahrer, Hausärztinnen, Staatsrechtsprofessoren und Verschwörungstheoretiker, die gemeinsam gegen die Corona-Politik ihrer Regierungen demonstrieren? Diese Frage beschäftigt Daniel Strassberg in der Republik („Politische Pubertätskrise“, 09/2020), nachdem er an der Migros-Kasse fast in eine Handgreiflichkeit geraten wäre. Die Antwort fand der Philosoph Strassberg im Englischen Bürgerkrieg, als sich zwei Weltanschauungen und Systeme gegenüberstanden: die Monarchisten, die auf einen allmächtigen König (oder Gott, oder Vater) setzten – und Liberale, deren Regierungsform auf der Ungewissheit basiert. Daran hat sich bis heute nicht viel geändert.

Im Glauben an die Allwissenheit der Eltern und der Regierung kann man sich geborgen und sicher fühlen. Doch die grosse Schwäche des „monarchischen“ Modells ist, dass es nicht mit der Pubertät rechnet. Irgendwann kommt für alle Eltern der schmerzhafte Moment, an dem die Kinder merken, dass Mama und Papa nicht allwissend, sondern voller Wider­sprüche sind. Wahrscheinlich ahnen sie es schon mit sieben, acht Jahren, aber zur Gewissheit wird es erst während der Pubertät.

Oft, sehr oft sogar, ist dies mit einer riesigen Enttäuschung verbunden und mit einer entsprechenden Wut. Die Jugendlichen haben das Gefühl, betrogen worden zu sein, und lehnen nun alles ab, was sie von den Eltern gelernt haben. Jetzt wissen die Eltern in ihren Augen plötzlich gar nichts mehr, während sie selbst alles wissen. Im Wesentlichen ist es das genaue Gegenteil dessen, was die Eltern vertreten haben. Daraus erwächst der typische adoleszente, aus der Enttäuschung erwachsene Freiheits­begriff, der sich auf den einfachen Nenner bringen lässt: «Ich lasse mir gar nichts mehr sagen, ich mache, was mir passt!»

Glücklicherweise überwinden die meisten Menschen diese Phase und versöhnen sich damit, dass ihre Eltern ganz gewöhnliche Menschen sind und die Regierung fehlbar. Mit anderen Worten: Die meisten Menschen wandeln sich irgend­wann in ihrem Leben von enttäuschten Monarchistinnen zu versöhnten Liberalen.

Die meisten, aber nicht alle. Es gibt solche, die verharren ein Leben lang in der Enttäuschung, dass sich niemand um sie kümmert, dass sie nicht von der Regierung versorgt werden und dass diese nicht allwissend und manchmal sogar wider­sprüchlich ist. Sie verharren in der Adoleszenz und tragen ein Leben lang einen archaischen Groll in sich, dass ihnen kein allwissender Gott/König/Vater sagt, wo es langgeht.

Dies erklärt auch den scheinbaren Wider­spruch, dass der pubertäre Freiheits­drang sie nicht daran hindert, den magischen Glauben an die elterliche Allwissenheit auf totalitäre Ideologien zu übertragen. Einerseits halten sie die persönliche Freiheit hoch, andererseits werfen sie sich Gurus, Diktatoren und Tyrannen wie Putin an die Brust. Offenbar ist der Gedanke des liberalen Staates bei vielen Menschen noch nicht angekommen. Sie hoffen immer noch auf royale Allwissenheit.
(zitiert von Daniel Strassberg, Republik, 22.09.2020)

Gegen die Wissenschaft…

Ist die Covid-Pandemie in Wirklichkeit schon vorbei? Herdenimmunität längst erreicht? Steigen die offiziellen Covid-Infektionszahlen nur deshalb, weil wir so viel testen? Nein. Das ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht haltbar. Die Pandemie ist real, gefährlich real.

Trotzdem gibt es Leute, die solche Aussenseitermeinungen vertreten, darunter etwa der Arzt Sucharit Bhakdi, der mit seinen «Corona-ist übertrieben»-Thesen bekannt wurde. Ist das nicht grundsätzlich etwas Begrüssenswertes? Lebt die Wissenschaft nicht genau von solchen gewagten Thesen, vom Aufbrechen der bisher gültigen Lehrmeinung?

Manchmal schon – aber sicher nicht so

Dass Wissenschafter wie Bhakdi dem breiten Konsens der Wissenschaft widersprechen, das ist natürlich ihr gutes Recht. Schliesslich kann es vorkommen, dass die Mehrheitsmeinung falsch ist. Man muss auch einer Minderheitsmeinung immer die Chance geben, sich durchzusetzen. Aber wie funktioniert das?

Eben nicht so, wie zum Beispiel Bhakdi das macht – er setzt im Grunde nur den anerkannten Fakten seine eigenen Fakten entgegen. «Ihr behauptet das, ich aber behaupte jenes.» Das genügt in der Wissenschaft aber nicht.

Man muss die Behauptungen, die man widerlegen will, genau verstehen und erklären können, warum die bisher anerkannte These zwar korrekt ausgesehen hat, aber trotzdem durch eine bessere These ersetzt werden sollte.

Lange dachte man, dass man die Bewegung aller Himmelskörper mit perfekten Kreisbewegungen beschreiben kann. Doch Johannes Kepler zeigte: Es sind Ellipsen. Es sind keine besonders langgezogenen Ellipsen, sie sind ziemlich kreisähnlich. Daher ist es kein Wunder, wurden sie eben lange für Kreise gehalten. Aber nur wenn man die Formel für Ellipsen verwendet, findet man die Planeten wirklich ganz genau an der Stelle, die man ausgerechnet hat. Das ist gute Wissenschaft: Nicht einfach nur trotzig dagegenreden, sondern zeigen, dass man verstanden hat, warum die alte These als wahr galt und warum man trotzdem einen Schritt weitergehen muss.

Genau das leisten «Corona-kritische» Herren wie Bhakdi nicht. Sie werfen Behauptungen in die Gegend, die angeblich der «gängigen Lehrmeinung» widersprechen, und erklären diese Lehrmeinung damit für widerlegt. So funktioniert das nicht.

Angenommen, das Coronavirus wäre wirklich schon vor Monaten verschwunden – dann müsste man für die bisher bekannten Beobachtungen Erklärungen liefern: für die hohe Anzahl positiver Tests, für die steigende Belegung der Krankenhäuser und Intensivstationen. Wer die bisher akzeptierten Rechenmodelle für falsch hält, müsste dann erklären, warum die Zahlen trotzdem so überzeugend zu den bestehenden Modellen passen. Je reichhaltiger die Beweislage für die bestehende Theorie, umso reichhaltiger müssen auch die Widerlegungen ausfallen. Unser Wissen über Corona ist mittlerweile sehr reichhaltig – die Gegenargumente sind vergleichsweise schwach.

Und da drängt sich der Verdacht auf, dass es manchen Leuten gar nicht um neue wissenschaftliche Thesen geht – denn dann würden sie sich dabei an die üblichen, wohl erprobten Regeln des wissenschaftlichen Arbeitens halten. Manchen scheint es aber wichtiger zu sein, im Rampenlicht zu stehen und Bücher zu verkaufen. Und das ist moralisch verwerflich. Gerade als Wissenschaftler hat man auch eine gesellschaftliche Verantwortung.

Meinungsfreiheit ist wichtig. Es soll nicht verboten sein, Unsinn zu verbreiten.
Aber nur weil etwas erlaubt ist, ist es noch lange nicht in Ordnung.
(Florian Aigner, ausgebildeter Physiker, Autor und Wissenschaftsredakteur zum Unterschied zwischen echter Wissenschaft und solcher, die nur danach aussieht – aus dem Republik-Newsletter vom 30.10.20)

Weiterlesen über die goldene Regel der Ethik: walserblog.ch/2021/01/10/goldene-regel-der-ethik/

Letzte Aktualisierung durch Thomas Walser:
10. Juni 2023