Gehen, Spazieren, Flanieren regt zum Denken an und ist radikal und subversiv

Ein Spaziergang macht mehr als nur gesund. Wir wissen über einige kluge Köpfe der Geschichte, dass sie viel und gerne zu Fuss unterwegs waren, weil sie daraus Inspiration schöpften. »Ich kann nur im Gehen denken«, schrieb Jean-Jacques Rousseau. Die Menschen in Königsberg, so lautet die Legende, stellten sich die Uhren nach Immanuel Kant, der jeden Tag um genau 7 Uhr einen Spaziergang unternahm. Auch Sokrates flanierte quasi beruflich den lieben langen Tag durch Athen und zwang seine Mitmenschen in endlos langen Unterhaltungen zum kritischen Nachdenken über ihr ›Ich‹. Simone de Beauvoir spazierte durch den Jardin du Luxembourg, um zu lesen, Freunde zu tre‘ffen und sich schlicht zu erholen. Friedrich Engels verpasste seinen Spaziergängen durch Manchester im Jahr 1842 gewissermassen ein Upgrade, als er durch ›walking observations‹ die schlimmen Lebensumstände der Arbeiterklasse erkannte und seine Eindrücke in einem Pionierwerk der empirischen Sozialforschung und des Marxismus niederschrieb. Von Albert Einstein ist überliefert, dass ihm womöglich ein abendlicher Spaziergang im Mai seines Wunderjahres 1905 zu ›dem Schritt‹ verhalf, die Grundbegriffe der Physik neu zu verstehen. Wir verstehen: Gehen bedeutet Grips.“

Bewegung in Rhythmen lassen besser denken

Schon in den antiken Wandelhallen, dann in der Kreuzgängen der Klöster, auch Schüler, die im Gehen Vokabeln büffeln, Schauspieler, die beim Rollenlernen herumlaufen – alle sie wussten es, was nun in den Neurowissenschaften benannt werden kann, dass im Gehen gewisse Hirnregionen (vor allem der Hippocampus) besser arbeiten können.
Der Rhythmus, vor allem regelmässige von mittlerer Geschwindigkeit sind gut zum Lernen geeignet. Regelmässige, langsame für Meditation und tranceartige Zustände.
Man kann sogar behaupten, dass das abstrakte Denken nur eine verfeinerte Nutzung der praktischen Funktionen unseres Gehirns ist, die darin besteht, den Körper in angemessener Art und Weise zu bewegen. Deshalb ist die Affinität des Denkens zur Bewegung und des Gehens vorhanden.
(Mehr darüber hier >>>)

Gehen ist radikal

Aus einem Interview mit dem norwegischen Abenteurer Erling Kagge, der in den 1990er-Jahren als erster Mensch zu Fuss die drei Pole der Welt erreichte: den Nordpol, Südpol und den Gipfel des Mount Everest (transform-magazin, 03/2022):

Du sagst, dass Gehen heutzutage radikal ist.
Kagge: Ja, in dem Sinne, dass so vieles in der Gesellschaft auf Geschwindigkeit basiert. Regierungen, Unternehmen und Bildungssysteme wollen, dass wir schneller werden. Wir sollen so schnell wie möglich von einem Ort zum anderen gelangen. Wir sind immer in Eile. Zu gehen bedeutet, langsamer zu werden, und ist deshalb radikal. Zweitens haben viele grosse Revolutionen damit begonnen, dass Menschen auf die Strasse gingen oder lange Wege zu Fuss zurückgelegt haben [etwa während der Französischen Revolution oder Gandhis Salzmarsch].

Manche Menschen zählen beim Gehen mit Smartphones und anderen Geräten ihre Schritte oder ihren Kalorienverbrauch. Ist das eine gute Idee?
Kagge: Sie sollen ruhig zählen, was sie zählen wollen. Es ist nur wichtig, nichts in den Händen zu halten* und das Gehen als Selbstzweck, nicht als Werkzeug zu betrachten. Ich versuche ausserdem, dabei nicht zu viel nachzudenken. Wenn ich damit anfange, denke ich an die Vergangenheit oder an die Zukunft. Ein Spaziergang hilft, im Moment präsent zu sein. Ziemlich oft finde ich dabei sogar Antworten auf Fragen, die ich mir gar nicht gestellt hatte.

* „Nichts in Händen zu halten“, ist auch wichtig, damit unsere Extensorenschlinge entspannt sein kann. Gespannte Arm-Strecker-Muskeln sind die Ursache für diverse rheumatologische Übel
(hier ausführlich in meinem Blog über Bewegung/Haltung).

Flanieren ist subversiv

Der Flaneur sucht die Anonymität, meidet die Arbeit, entzieht sich der Geschäftigkeit und beobachtet den Konsumkult distanziert – gerade das macht ihn so subversiv. Mit seinem Schlendern protestiert er gegen die Arbeitsteilung stellt die bestehende Ordnung in Frage und verändert sie, ist also subversiv – und dies ist durchaus positiv gemeint…

aus: Megan Hayes, Atlas der Gelassenheit, Knesebeck

Weiterlesen:
Intensivieren Sie das Bewusstsein über Ihre Haltung und Bewegung beim Gehen/Flanieren: entspanntes_Gehen.pdf
und mit mehr Details (auch für Fachleute)…
Unsere weiteren natürlichen Rhythmen für unsere Gesundheit!
Philosophische Flaneure!

Photo by Jad Limcaco on Unsplash

Letzte Aktualisierung:
29. März 2024