Krankheiten als Folge von Übersäuerung?

Dieser sehr gut recherchierte Zusammenfassung von Andrea Böhnke aus DIE ZEIT 33/2021 habe ich nur wenig zuzufügen. Auch wir HausärztInnen und KomplementärtherapeutInnen sollten hier dieses Grundwissen über die sogenannte „Übersäuerung“ des Menschen stets abrufbar haben. Wir können so unsere damit stark verunsicherten KlientInnen besser beraten und aus dem kuriosen Wirrwarr, welches hier herrscht, rausbegleiten. Der Mensch ist übersäuert, heisst es. Eine basische Ernährung soll helfen, auch bei Entzündungen oder dem Abnehmen. Was davon wirklich stimmt und was ein Trugschluss ist.

Sieben hartnäckige Mythen und Fakten über den Säure-Basen-Haushalt

Wer vor dem Zeitschriftenregal im Supermarkt steht, durch die Ratgeberabteilung in der Buchhandlung schlendert oder im Internet nach »Säure-Basen-Haushalt« sucht, könnte meinen, dass Übersäuerung ein ernst zu nehmendes Volksleiden ist, das es unbedingt zu bekämpfen gilt. Entweder mit einem Basenpulver, das man täglich unter sein Trinken oder Essen mischt, oder mit einer Basenkur, bei der man sich für einige Wochen vor allem von Obst und Gemüse ernährt. Daneben werden oft auch basische Duschen, Peelings und Fussbäder empfohlen – sowie das Tragen basischer Strümpfe. Hinter all diesen Angeboten steckt der Glaube, dass der moderne Mensch durch seinen Lebensstil latent übersäuert ist. Er isst vermeintlich zu viel säurebildende Lebensmittel wie Brot, Fleisch und Käse und zu wenig basenbildende wie Obst und Gemüse. Und zu allem Überfluss bewegt er sich auch kaum noch. In der Theorie führt das dazu, dass der pH-Wert in unserem Blut und Urin sinkt, diese Körperflüssigkeiten also sauer werden, was uns müde macht und unsere Haut fahl und schlaff. Im Extremfall, so die Hypothese, soll die latente Übersäuerung sogar das Entstehen von Krankheiten wie Demenz, Osteoporose oder Krebs begünstigen. Aber kann das sein? Was stimmt wirklich, wenn es um die vermeintliche Übersäuerung geht?

Macht zu viel Säure krank?

Müde, erschöpft, brüchige Nägel und schlaffe Haut – der latente Säureüberschuss, an dem angeblich so viele Menschen hierzulande leiden, soll sich durch eine Reihe unschöner und vor allem unspezifischer Symptome bemerkbar machen. So die Theorie. Belege gibt es dafür keine, nicht allein deswegen, weil es keine latente Übersäuerung in weiten Teilen der Bevölkerung gibt.
Die Auswirkungen einzelner Säuren – oder eines Zuviel an ihnen – wird von Wissenschaftlern bereits seit Längerem untersucht, vor allem der Einfluss auf Knochen und Gelenke. Und tatsächlich ist dabei eine bestimmte Säure in den Fokus gerückt:

Phosphate

Phosphorsäure und ihre Salze: Man findet sie in Cola, aber auch in anderen verarbeiteten Lebensmitteln wie Wurst, Limonaden, Schmelzkäse oder Schokolade. Die sogenannten Phosphate sind überlebenswichtiger Bestandteil der Ernährung, im Übermass aber könnten sie möglicherweise schaden.
So haben Mediziner den Verdacht, dass Phosphorsalze, sogenannte Phosphate, die Knochen brüchig machen könnten. In Tierstudien wurde tatsächlich ein Zusammenhang zwischen Phosphorsalzen und Osteoporose gezeigt (u.a. Current Osteoporosis Reports: Vorland et al., 2017). Beim Menschen ist hingegen nicht belegt, dass das Risiko für Osteoporose steigt, je mehr Phosphorsalze man zu sich nimmt. Im Gegenteil: Je mehr Phosphat aufgenommen wird, umso weniger Calcium scheiden wir aus. Insgesamt ist die Datenlage für eine Warnung vor Phosphat als Osteoporosegefahr daher nicht ausreichend. Die Frage ist: Hängt das erhöhte Risiko tatsächlich mit diesem einen Nahrungsbestandteil zusammen? Oder sind die Lebensmittel, die reich an Phosphorsalzen sind, nicht aus anderen Gründen ungesund? Zum Beispiel, weil sie in der Regel auch viel Zucker enthalten, viel gesättigte Fettsäuren, viel Salz und weil sie häufiger von Menschen konsumiert werden, die sich weniger bewegen, mehr Alkohol trinken und mehr rauchen.
Es ist also ein Fehlschluss, den negativen Effekt allein auf die Phosphorsäure zurückzuführen, wenn es auch ganz andere, mitunter plausiblere Erklärungen gibt, warum die Menschen, die viel Phosphorsäure zu sich nehmen, Osteoporose haben.
Man muss hier auch betonen, dass die körpereigenen Puffersysteme die überschüssige Säure eliminieren. Wochenlang sehr viel Cola zu trinken ist aus verschiedenen Gründen nicht zu empfehlen – der pH-Wert des Blutes aber ändert sich dadurch nicht.
Trotzdem schliessen auch manche Forscher nicht aus, dass sich eine regelmässig säureüberschüssige Ernährung langfristig negativ auswirken könnte. Sie meinen, dass die Nieren einem erheblichen Stress unterliegen, wenn sie sehr hohe Säuremengen ausscheiden müssen. Ausserdem bildet der Körper beim Ausscheiden der Säuren in der Niere vermehrt Ammoniak – und muss dafür vermehrt das Stresshormon Cortisol ausschütten. Erhöhte Cortisolwerte wiederum, das weiss man, können das Auftreten einer Reihe von Erkrankungen fördern oder beschleunigen. Hier gibt es aber noch viel Forschungsbedarf.

Lässt sich der Säure-Basen-Haushalt über die Ernährung beeinflussen?

Wenn wir die Inhaltsstoffe unserer Nahrung verstoffwechseln, entstehen in unserem Gewebe und in den Organen entweder Basen oder Säuren. Das hat nicht unbedingt etwas damit zu tun, ob das Lebensmittel an sich sauer oder basisch ist. Tierische Proteine zum Beispiel bewirken, dass im Körper saure Substanzen freigesetzt werden, die dann über die Nieren ausgeschieden werden. Kalium (aus Gemüse), Calcium und Magnesium sind dagegen basenbildend. Eine Ernährung mit viel Obst und Gemüse führt daher eher zu einem Basenüberschuss, viel Fleisch dagegen zu einem Säureüberschuss. Wer sowohl pflanzliche als auch tierische Produkte zu sich nimmt, hat immer einen leichten Säureüberschuss, der über Blut, Lunge und Nieren weggepuffert wird, sodass sich der pH-Wert in unserem Körper insgesamt nicht ändert.
Was wir essen, hat also kaum einen Einfluss auf den Säuregehalt unseres Blutes. Nichtsdestoweniger ist eine sogenannte basische Ernährung grundsätzlich förderlich und wirkt sich zum Beispiel günstig auf kardiovaskuläre Erkrankungen aus. Basische Lebensmittel sind gesünder – das liegt aber nicht an den Basen, die gebildet werden, sondern daran, dass sie reich an Ballaststoffen, Mineralstoffen und Vitaminen sind.

Wie aussagekräftig ist ein Urintest?

Im Internet und in der Apotheke gibt es verschiedene Urintests, die einem Auskunft über den Säure-Basen-Haushalt des Körpers liefern sollen. Was die Tests tatsächlich können, ist, den pH-Wert im Urin zu bestimmen. Und natürlich kann man daraus in gewissem Masse ableiten, wie der Ernährungszustand der Menschen ist. Zeigt das Messstäbchen einen sauren pH-Wert an, isst man wahrscheinlich eher Brot, Fleisch und Käse. Ist der pH-Wert dagegen alkalisch, nimmt man vermutlich eher pflanzliche Produkte zu sich. Der springende Punkt aber ist, das der Säuregehalt im Urin nicht dem Säuregehalt im Körper entspricht, denn der pH-Wert im Blut bleibt gleich, zeigen genaue Untersuchungen. Wenn überhaupt, deutet ein saurer pH-Wert darauf hin, dass das Puffersystem der Niere gut funktioniert. Die Niere schafft es, Säureionen loszuwerden.

Was bringen Basenpulver und Basenkuren?

Hersteller von Basenpulvern werben gern damit, dass die Wirkung der Mittel wissenschaftlich erwiesen sei. Meist werden zwei Gruppen von Studien erwähnt. Das eine sind Zell- oder Tierexperimente mit exorbitant hohen Dosierungen, die überhaupt nicht auf den Menschen übertragbar sind. Und das andere sind biochemische Zusammenhänge aus Lehrbüchern, die inhaltlich erst einmal stimmen. Entscheidend aber sind Studien an Menschen – schliesslich werden die Basenprodukte ja auch für Menschen vermarktet und nicht für Labormäuse. Und nach solchen Humanstudien sucht man vergebens. Es gibt bisher keine Studie an Menschen, die zeigen, dass Basenpulver oder auch Basenkuren tatsächlich einen realen gesundheitlichen Effekt haben.
Unser Körper macht jeden Tag 24 Stunden von selbst eine Basenkur und puffert die überschüssigen Säuren weg oder scheidet sie über die Nieren aus.
Auch wenn ein im August 2020 veröffentlichtes Paper von Wissenschaftlern der Charité Berlin anderes vermuten lässt (European Journal of Nutrition: Boschmann et al., 2020): Die Forscher fanden in ihrer Studie heraus, dass Basenpulver einen positiven Effekt haben könnten – zwar nicht aufs Blut, aber auf Muskeln und Nieren. Methodisch ist die Studie relativ gut gemacht. Allerdings wurde sie vom Hersteller eines Basenpulvers finanziert, und die Ergebnisse sind überwiegend statistisch nicht signifikant. Es gibt Trends zugunsten des Supplements, bezüglich niedrigerer Spiegel für Glukose und Insulin. Der pH-Wert im Blut hat sich aber nicht geändert, selbst die Gewebsmessungen in der Muskulatur zeigen kaum Unterschiede. Basenpulver sollten deshalb nicht damit beworben werden, dass sie basisch und deswegen gut sind. Dies ist ein klarer Fehlschluss.

Bei gewissen Krankheiten sieht es im Übrigen anders aus: So gibt es bestimmte Situationen, in denen Medizinerinnen tatsächlich mit säurebildenden oder alkalisierenden Substanzen arbeiten. Zum Beispiel bei Patienten, die Nierensteine haben. Je nachdem, woraus die Steine bestehen, lösen sie sich in einem sauren oder alkalischen Milieu besser auf. Deswegen kann man in solchen Fällen mit Nahrungsergänzungsmitteln oder speziellen Medikamenten versuchen, den Urin künstlich anzusäuern oder zu alkalisieren.

Basenfasten?

Und was ist mit dem Basenfasten, bei dem man auf säurebildende Lebensmittel weitgehend verzichtet und stattdessen vor allem Gemüse und Obst verzehrt? Verschiedene Ratgeber versprechen, dass man auf diese Weise seinen gesamten Körper entsäuern kann – nicht nur den Urin, sondern auch das Blut.
Gemüse und Obst zu essen ist die Grundlage jeder gesunden Ernährungsform. Das hat aber eher wenig mit dem Säure-Basen-Haushalt zu tun und mehr damit, dass es sich hierbei um kalorienarme, aber mineralstoff-, ballaststoff- und vitaminreiche Lebensmittel handelt. Ein gesunder Mensch muss sicher keine Basendiät machen – zumindest nicht wegen der Basen. Unser Körper macht jeden Tag 24 Stunden von selbst eine Basenkur und puffert die überschüssigen Säuren weg oder scheidet sie über die Nieren aus.

Hilft basische Ernährung bei Krankheiten?

Wer sich alkalisierend ernährt, verbessere die Nierenfunktion und den Stoffwechsel und scheide verstärkt Substanzen aus, die an chronisch-entzündlichen Erkrankungen wie Arthrose und Rheuma mit beteiligt sind. So zumindest liest man es im Internet und in Ratgeberbüchern. Obwohl es noch nicht untersucht sei, spreche einiges dafür, dass an dieser These tatsächlich etwas dran sei, sagen manche Wissenschaftlerinnen. Immerhin gibt es Untersuchungen, die zeigen, dass Menschen, die viel basenbildende Lebensmittel verzehren, verstärkt Harnsäure ausscheiden; und Harnsäure spielt bei Gicht und Arthrose eine entscheidende Rolle (The Journal of Nutrition: Esche et al., 2018).
Auch ich rate dazu, eine gemüsereiche, aber zucker- und fleischarme – und damit basische – Ernährung bei Arthrose und Rheuma einzuhalten, weil diese Lebensmittel antientzündlich wirken. Das liegt aber nicht am basischen Wesen dieser Diäten, sondern an Ballaststoffen, ungesättigten Fetten, wenig gesättigtem Fett und wenig Harnsäure. Mit Bullrichsalz oder anderen basischen Präparaten wird man keine Linderung von Gelenkbeschwerden erreichen.

Nimmt man durch eine basische Ernährung ab?

Eine basische Ernährung, das versprechen viele Ratgeber, soll neben den zahlreichen positiven Effekten auf den Körper auch noch dazu führen, dass man abnimmt. Der Gedanke dahinter ist der folgende: Wenn man sehr, sehr viel Obst und Gemüse isst, wird das Blut etwas weniger sauer, und der Körper steuert gegen. Er produziert dann organische Säuren, die aus dem Fettgewebe stammen. In dem Moment, in dem man sehr viel basenbildende Lebensmittel zu sich nimmt, wird also etwas mehr Fettgewebe abgebaut.
Aber stimmt das? Nicht wirklich. Wieder wirkt der Zusammenhang erst einmal plausibel. Die Menge an Fettgewebe, die abgebaut wird, ist aber so klein, dass sie für eine echte Gewichtsabnahme keine Relevanz hat. Natürlich gibt es aber auch hier wieder einen indirekten Effekt der basischen Ernährung: Weil sie nährstoffreich und gleichzeitig energiearm ist, reduziert sich das Körpergewicht. Mit einem postulierten Baseneffekt dieser Ernährung haben diese positiven Wirkungen aber nichts zu tun.

Quellen: Ernährungsmedizin-Blog von Prof. Martin Schmollich & Team, Universität Schleswig-Holstein in Lübeck
DIfE, Deutsches Institut für Ernährungsforschung Potsdam-Rehbrücke
und weitere sind bereits oben erwähnt.

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Letzte Aktualisierung durch Dr. med. Thomas Walser:
17. Juni 2022