Das Zeitalter der Psychologisierung

Das Thema Mental Health gab es früher schlicht nicht. Mittlerweile ist es überall. Gemäss einer Auswertung von 2023 tauchte der deutsche Begriff «Psychische Gesundheit» im Jahr 2018 lediglich 2700-mal in den Medien auf. Drei Jahre später, auf dem Höhepunkt der Pandemie, explodierten die Nennungen auf beinahe 470’000. Seither ist die eigene Befindlichkeit insbesondere in den sozialen Medien und bei den Jungen das grosse Thema geblieben.

Die Flut an Schilderungen von Angst-, Beziehungs-, Bindungs-, Ess-, Schlaf- und Zwangsstörungen reisst nicht ab, ebenso von ADHS, Autismus, Narzissmus, Selbstverletzungen oder depressiven Verstimmungen – und im Netz finden sich Selbst-Tests zuhauf. Man erklärt sich die steigende Nachfrage nach psychotherapeutischer Unterstützung zum Teil mit dieser «Psychologisierung» und spricht von einer eigentlichen «Therapiekultur», die heute herrscht.

Worried Well

Es gibt sogar einen Fachausdruck für jene, denen es medizinisch gesehen an nichts fehlt, die aber der Meinung sind, Hilfe zu benötigen: Die sogenannten «Worried Well». Häufig handelt es sich um eher junge, gut ausgebildete Menschen, die genügend Musse haben, sich ausgiebig mit sich selbst zu beschäftigen. Es wäre jedoch falsch, ihr Leiden als eingebildet zu bezeichnen, denn für die Betroffenen ist dieses in ihrem eigenen Erleben vollkommen real. Die Selbstdiagnosen und die Psychologisierung erklären zumindest teilweise die hohen Zahlen, denn sie beruhen fast immer auf Befragungen. Es handelt sich also nicht um harte wissenschaftliche Fakten wie etwa bei einer Krebsstatistik, sondern vielmehr um subjektive Selbsteinschätzungen.

Die Pharmaindustrie mischt hier kräftig mit

Wenn Psychiater aus der ganzen Welt eine Diagnose stellen, berufen sie sich auf ein dickes Buch: das DSM, das «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders», 1300 Seiten dick. Ein Gremium von Psychiatern der US-amerikanischen Fachgesellschaft überarbeitet das DSM alle paar Jahre – und jedes Mal kommen neue und oft umstrittene Diagnosen dazu. Die neueste Version heisst DSM-5-TR und stammt aus dem Jahre 2022.

Doch jetzt kommt aus: Viele der Psychiater aus dem DSM-5-TR-Gremium erhielten von der Pharmaindustrie massive Geldbeträge. Dies zeigt eine Studie, die das renommierte Fachblatt «British Medical Journal» in diesem Frühling veröffentlicht hatte. Insgesamt über 14 Millionen Franken flossen alleine zwischen 2016 und 2019 von der Pharmaindustrie an 55 Psychiater, die am Diagnose-Katalog mitgearbeitet hatten. Im Durchschnitt sind das satte 85’000 Franken pro Jahr für jeden Psychiater.
Offizieller Grund für die Honorare: Mitwirken an Medikamenten-Studien, Vorträge oder Beratungen. Wie massiv diese Geldbeträge sind, machte das «Open Paymant» möglich, eine Plattform, auf der US-Psychiater seit einigen Jahren ihre Einkünfte von der Industrie deklarieren müssen.
Auch Etzel Gysling, Arzt und Herausgeber des Fachblatts «Pharmakritik» spricht im Gesundheitstipp von «enormen Zahlungen». Er sagt: «Vor ein paar Jahren hatte man das Gefühl, es käme zu einer Mässigung von solchen Zahlungen. Das ist offenbar nicht der Fall.»
In der Tat: Bereits das Gremium zur ersten Fassung der Ausgabe, dem DSM-5, kam 2013 deswegen in Kritik. Untersuchungen zeigten auf, dass 6 von 10 Psychiater auch aus diesem Gremium von der Industrie Geld erhalten hatten.

Diagnose «Mangelndes sexuelles Verlangen der Frau» und mehr

Der Geldfluss hat einen handfesten Grund: Jede neue Diagnose ist für die Industrie ein lukratives Geschäft, um weltweit Psycho-Medikamente zu verkaufen. Beispiele: Das DSM-5 definierte neu die Diagnose «Mangelndes sexuelles Verlangen der Frau». Wenig später brachte die Firma Sprout Pharmaceutical in den USA die weibliche Sex-Pille Addiy mit dem Wirkstoff Filibanserin auf den Markt. In der Schweiz ist sie nicht zugelassen.
Im DSM-5 war auch neu, dass eine längere Trauerphase als «Depression» gilt. Psychiater sollten sie nun mit Medikamenten behandeln. Ein Riesengeschäft für Hersteller von Antidepressiva.
Eine neue Diagnose war auch «Agoraphobie», die Angst vor Situationen, bei denen es kein Entrinnen gibt. Sie kann auftreten in Zügen, die im Tunnel stehen bleiben oder in Flugzeugen, die auf der Startbahn warten müssen. Auch hier die Lösung in der Psychiatrie: Antidepressiva.

Experten des deutschen kritischen Fachblatts «Arzneimittelbrief» sprechen in der neuesten Ausgabe von einer «korrumpierbaren Berufsgruppe». Sie fordern eine Obergrenze für Honorare. Zudem sollen von der Industrie bezahlte Ärzte kein Vorträge mehr an Ärzte-Fortbildungen halten dürfen.
(Quelle: Gesundheitstipp, Mai 2024)

Weitere Beispiele von sogenannter „Disease Mongering“ findet man an diversen Stellen meiner Website >>>

Vor allem Frauen werden psychologisiert

Die Pharmaindustrie spielt mit unserer Angst und zielt in einer Flut von (meist versteckter) Werbung in Talkshows und in Zeitschriften speziell auf Frauen. Mehr Europäer- und Amerikanerinnen sind auf „psychiatrischen Drogen“ (sprich: Medikamente) als je zuvor, und meiner Erfahrung nach bleiben sie auf ihnen weit länger als jemals beabsichtigt. Verkäufe von Antidepressiva und Antiangstmedikamenten boomen in den letzten zwei Jahrzehnten, und sie wurden kürzlich von einem Antipsychotikum, Abilify, das ist die Nummer 1 unter allen Medikamenten in der ersten Welt, noch übertroffen.

Als Arzt, der seit 40 Jahren praktiziert, muss ich Ihnen sagen, dass das verrückt ist.

Mindestens jede vierte Frau in Amerika nimmt inzwischen eine psychiatrische Medikation ein, verglichen mit jedem siebten Mann. Frauen erhalten fast doppelt so häufig wie Männer die Diagnose Depression oder Angststörung.

Der neue, medikamentöse Normalzustand steht im Widerspruch zur dynamischen Biologie der Frauen; Gehirn- und Körperchemikalien sollen im Fluss sein. 

Um die Dinge zu vereinfachen, denken Sie an den Neurotransmitter Serotonin als die „Es ist alles gut“-Gehirn-Chemikalie. Serotonin wird durch ein Antidepressionsmedikament erhöht. Ist das Serotonin in unserem Hirn zu hoch, interessierst du dich für nichts mehr; ist es zu niedrig und alles scheint ein Problem zu sein, das es zu lösen gilt.
In den Tagen vor der Menstruation, wenn die emotionale Sensibilität erhöht wird, können sich Frauen mit Serotonin weniger isoliert, gereizter oder unzufriedener fühlen.

Es wäre aber vielleicht angebrachter, wenn Sie sich, anstatt eine solche Tablette einzuwerfen, sagen würden, dass die Gedanken und Gefühle, die in dieser Phase aufkommen, echt sind. Und vielleicht ist es am besten, neu zu bewerten, was Sie den Rest des Monats ertragen, wenn ihr Hormon- und Neurotransmitterspiegel so programmiert ist, dass er sie veranlasst, den Anforderungen und Bedürfnissen anderer gerecht zu werden.

Wenn der Serotoninspiegel bei Frauen konstant und künstlich hoch ist, besteht die Gefahr, dass sie ihre emotionale Sensibilität mit ihren natürlichen Schwankungen verlieren und einen maskulinen, statischen Hormonhaushalt modellieren. Diese emotionale Abstumpfung ermutigt Frauen, Verhaltensweisen anzunehmen, die typischerweise von Männern gebilligt werden: Sie scheinen unverwundbar zu sein, zum Beispiel eine Haltung, die Frauen helfen könnte, in von Männern dominierten Unternehmen aufzusteigen.

Und verlieren dabei alle die schönen weiblichen Eigenheiten, von denen wir wissen, dass sie uns, die Gesellschaft und die Erde gesunden lassen.
Weiterlesen im Blog „Frauen an die Macht“ >>>

Quellen:
im Text genannt

Foto von Gabriel Barletta auf Unsplash

Letzte Aktualisierung von Thomas Walser:
25. Mai 2024