Hypersensibilität

Übererregbarkeit oder Hyperreaktivität bei Überempfindlichkeit oder Hypersensibilität – und es ist hier nicht die Modediagnose „Hochsensibilität/Hochsensitivität“ gemeint – scheint einer der grössten Triebfedern für pathologische Prozesse in unserem Körper/Psyche zu sein. Dies bezeichnet ein psychologisches und neurophysiologisches Phänomen. Betroffene nehmen Sinnesreize viel eingehender wahr, verarbeiten diese tiefer und reagieren auch dementsprechend stärker darauf als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Ständige Reize, die wenig abgefedert werden, sind am gefährlichsten. Dazu gehören Dauerstress, langzeitige Schlafstörungen, auch Traumatisierungen (psychischer oder körperlicher Art). Bei sensitiven Menschen auch bereits schon der alltägliche „kleine Ärger“, auch mehrmals tägliches Essen kleiner Mengen (kann zu Reizdarm führen!) oder ständig viele kleine Mengen trinken (Reizblase).

Diese Reiz-Vorgeschichte lässt unser Immunsystem und unsere Psyche aus dem Ruder laufen und birgt die Gefahr für chronische Erregungs- oder Entzündungszustände, die heute in der Medizin als wichtige Grundursachen für viele Leiden gelten, z.B. der Arterienverkalkung, Metabolisches Syndrom (Diabetes, Adipositas), von diversen Autoimmunstörungen und Krebsarten – und auch der Neuroinflammation. Diese Entzündung unseres Nervensystems ist der gemeinsame Nenner weiterer sehr häufiger Krankheitsbilder, wie Schmerzkrankheiten (Chronisches Schmerzsyndrom, Fibromyalgie, Beckenschmerzsyndrom, Migräne,…), Depression und Angststörungen, , aber auch Alzheimer, MS, Parkinson,…

Neurotizismus und Gewissenhaftigkeit

Auf der psychischen Ebene ist hier der „Neurotizismus“ massgebend. Er ist einer der fünf grossen Grundzüge oder Dimensionen der Persönlichkeit in der Psychologie und hat nichts mit „neurotisch“ zu tun.
Diese „Big Five“ sind:

  • Neurotizismus (emotional labil, verletzlich)
  • Gewissenhaftigkeit (effektiv, organisiert)
  • Offenheit für Neues/Erfahrungen (erfinderisch, neugierig)
  • Verträglichkeit (kooperativ, freundlich, mitfühlend, ehrlich, bescheiden)
  • Extraversion (Fähigkeit zur Freude, gesellig)

Für die Gesundheit besonders abträglich ist ein hoher Neurotizismus. Menschen mit dieser Eigenschaft sind emotional labil, nervös, ängstlich, grüblerisch und wenig belastbar. Meist tut dieser permanente Alarmismus dem Körper nicht gut: Sie neigen zu weniger Ich-Stärke, Instabilität im Stress, zu Depressionen oder psychosomatischen Störungen.

Diese Eigenschaft ist auch meist kombiniert mit einer grösseren Reizbarkeit auf Schmerzreize (siehe oben).

Doch wenn gleichzeitig die Gewissenhaftigkeit (Selbstkontrolle oder Selbstdisziplin, Pflichtbewusstsein, Ausdauer, Grenzen…) hoch ist, sind die Menschen sogar besser vor Gesundheitsgefahren geschützt als die Durchschnittsbevölkerung! Sie sind dann zwar besorgt, aber gewissenhafte Menschen rauchen und trinken weniger und essen massvoller.
Es gelingt Menschen, die gewissenhaft sind, sich bessere Lebensbedingungen zu erarbeiten. Wer schon in der Kindheit selbstdiszipliniert zu Werke geht, bekommt eher gute Noten, schafft eher eine anspruchsvolle Ausbildung und wohnt in einer gesünderen Umgebung. Leute mit viel Selbstkontrolle führen im Schnitt bessere und längere Beziehungen als Menschen, die sich weniger im Griff haben. Sie werden mehr gemocht und anerkannt. Sie bewegen sich mehr und regelmässiger. Sie sind weniger gestresst, fühlen sich weniger schuldig, können sich besser an neue Situationen anpassen und sind weniger beratungsresistent. Sie begehen weniger Verbrechen. Sie überwinden sogar Vorurteile besser. Und, nach all dem nicht überraschend: Sie leben länger.

Prophylaxe und Therapie

Tröstlich ist, dass die Prophylaxe- und Therapiemöglichkeiten bei der Hypersensibilität mit altbekannten und alltäglichen Lebensveränderungen möglich sind:

  • Ernährung entzündungssenkend: mediterran; auch vegetarisch oder (sorgfältig) vegan (bessere Darmflora!); Kurzfasten, wie 16:8 oder 14:10.
  • Mehr Bewegung – mässig und regelmässig.
  • Mehr Beruhigung, Entspannung, Innerer Frieden…
    Meditation… Sie sind dadurch weniger gestresst.

Alles schön und gut. Aber es gibt auch eine Überdosis Disziplin! Wichtig ist der Wechsel von Spannung und Entspannung, von Kontakt und Rückzug, von Selbstkontrolle und Genuss! Es gibt also auch die Rückseite der Medaille durch „Selbstknechtung“, heute „Selbstoptimierung“ genannt, was in Stress, Depression und Burnout enden kann.

…und nicht „Hochsensibilität“!

Und es war schön, plötzlich besonders zu sein: eine Eigenschaft zu haben, die mich von anderen Menschen abhob und irgendwie einzigartig machte. Wem schmeichelt das nicht? Eine Weile schwebte ich mit diesem Gefühl umher: dass alles plötzlich Sinn machte. Schön fühlte sich das an, gemütlich auch…
…Vermutlich geht es vielen wie mir: Man liest von Betroffenen, erkennt sich in ihren Geschichten wieder, klickt sich durch Selbsthilfeforen – und nimmt das Label an. So entdecken Bauchschmerzleidende ihre Glutenunverträglichkeit, Migränegeplagte eine Histaminintoleranz und Mathehasser eine Dyskalkulie. Die meisten dieser Krankheitsbilder gibt es, aber nur wenige Menschen sind wirklich betroffen, von Zöliakie, Glutenunverträglichkeit, etwa nur zwischen 0,5 und einem Prozent der Bevölkerung. Das ist ein Problem, denn Modebefunde schaden den tatsächlichen Patienten. Wer wirklich kein Gluten verträgt, hat es schwer, ernst genommen zu werden…
…Hochsensibilität ist charmant. Hochsensibel, das klingt wie hochbegabt: außergewöhnlich, aber außergewöhnlich gut. Und die Sache mit meinem guten Gedächtnis habe ich schon immer gern erzählt.
Seit ich mich mit dem Begriff auseinandersetze, habe ich gelernt, meine Eigenheiten anzunehmen: Ich weine halt schnell, bin empfindlich, brauche manchmal Ruhe. Irgendwann sagte ich das erste Mal eine Verabredung ab, einfach so, mit der Begründung: Ich hatte einen langen Tag, ich bin zu müde. Es war erstaunlich in Ordnung.
Es ist normal, von einer überfordernden Welt überfordert zu sein. Dass ich mich nicht mehr hochsensibel nenne, ändert nichts daran, wie ich die Welt wahrnehme. Ich habe bloß aufgehört zu glauben, dass ich deshalb besonders sei.“
(Rebekka Wiese in Zeit Online, 05.04.21)

Narzisstische Züge

Manche Menschen, die sich selbst als hochsensibel empfinden, zeigen laut einer neuen Studie ein gewisses Anspruchsdenken: Sie wollen Unannehmlichkeiten und zu viel Aufregung vermeiden und denken, dass sie das aufgrund ihrer ungewöhnlichen Wahrnehmung auch verdient haben. Die Forscher nennen diese Mischung aus Hochsensibilität und Anspruchsdenken „hypersensitiven Narzissmus“. Diese Haltung gehe auch einher mit einem geringen Selbstwertgefühl.

In zwei Studien wurden rund 600 Personen Fragebögen zu Hochsensibilität, Narzissmus, Anspruchsdenken, Selbstwertgefühl vorgelegt. Die Hochsensiblen berichteten, auf unangenehme Situationen sehr stark zu reagieren. Diese Eigenschaft könne bei ihnen zu Negativkreisläufen und Rückzug führen. Sie neigten dazu, sich als etwas Besonderes zu sehen, und hätten den Anspruch, wegen ihrer erhöhten Sensibilität negativen Erfahrungen aus dem Weg zu gehen. Dies schwäche aber auch ihre Verbundenheit zu anderen. Hochsensible neigten zu Fantasien der Grandiosität, was sie aber vor anderen verbergen. Die Forscherinnen und Forscher schreiben, sie wollten darlegen, wie Hochsensible sich selbst wahrnähmen, es gehe ihnen nicht um Pathologisierung.
(zitiert und Copyright: Psychologie Heute, Dezember 2022
Studie: Emanuel Jauk u. a.: Do highly sensitive persons display hypersensitive narcissism? Similarities and differences in the nomological networks of sensory processing sensitivity and vulnerable narcissism. Journal of Clinical Psychology, 2022. DOI: 10.1002/jclp.23406)

Letzte Aktualisierung:
14. November 2022